Ute Ritschel

Die flüchtige Kunst - zur Dokumentation und Rekonstruktion von Performance

Anhand einiger Denkansätze und Erfahrungen möchte ich hier Probleme und Praktiken im Bereich der Dokumentation und Rekonstruktion von Kunstaktionen und performativen Akten ansprechen. Die Dokumentation eines flüchtigen Mediums wie das der Performance-Kunst wird immer die Frage nach der Authentizität aufwerfen, und ihre Uebersetzung in die Gegenwart späterer BetrachterInnen miteinbeziehen müssen. Die Dokumentation einer Aktion obliegt den Kunstschaffenden und deren HelferInnen, die Rekonstruktion aber wird zum wissenschaftlichen Akt und Interpretationsfeld der Expertlnnen. Manchmal wird sie auch unter Mithilfe der betreffenden Kunstschaffenden durchgeführt, bleibt aber meist nur als Videoband oder Photo ein verlorenes dynamisches Ereignis im Ausstellungsraum, selbst wenn die Dokumente durch Schnitte und Collagen zu eigenständigen Kunstwerken werden.
Während des künstlerischen Schaffensprozesses werden im Vorfeld einer Aktion immer Vorarbeiten in Form von Notizen, Zeichnungen, Texten, Tonaufnahmen, Videos, Dias oder, im günstigsten Falle, eine Notation bzw. Choreographie erstellt, obwohl die Performance häufig assoziativ und improvisatorisch arbeitet. Diese Dokumente stehen den KünstlerInnen zu einer späteren Weiterarbeit oder Rekonstruktion des ursprünglichen Gedankens zur Verfügung. Während der Performance werden die gängigen Dokumentationspraktiken wie Video, Photo, Film und auch Notizen von KritikerInnen angewandt. Nach der Aktion bleiben objekthafte Reste, die oft auch im Sinne eines performativen Kunstherstellungsprozesses neuentstandene Kunstwerke oder Installationen sind.
Im Verlauf dieses Dokumentationsprozesses werden verschiedene Ebenen der Interpretation angesprochen. In der Textualisierungsdebatte der Kulturanthropologie wird die “Interpretation der Interpretation“ thematisiert. Die Kunstschaffenden interpretieren sich selbst und machen mit ihrem Kunstereignis ihre Erfahrung sichtbar. Die Betrachtenden interpretieren die entstandene Kommunikationssituation und lernen somit das Ergebnis der künstlerischen Erfahrung kennen. Die Dokumentationsmedien wie Video, Photo, Film interpretieren die Aktion durch die zweidimensionale Linse und das Auge des Aufnehmenden. Die KritikerInnen interpretieren und versuchen eine analytische Einordnung vorzunehmen. Nach der Arbeit bieten die KünstlerInnen wiederum neue Interpretationsmöglichkeiten, da sie sich selbst durch das Auge und die Meinung der anderen gefiltert sehen. Sie selbst sind nicht frei von einer sich ständig ändernden Sichtweise auf ihre eigene Arbeit, die immer im Zusammenhang der gegenwärtigen sozialen, zeitlichen, räumlichen und kulturellen Strömungen steht. Besonders in Interviewsituationen mit Kunstschaffenden macht sich diese Veränderung der Eigeninterpretation bemerkbar, wobei auch die Expertlnnen durch ihre Einstellung interpretativ auf das Ergebnis des Gespräches einwirken.
Die Wiederholung einer Performance ist gleichzeitig eine neue Arbeit, da sie anders als das Theater freier in ihrer Gestaltung ist und keine identische Wiederholung versucht, sondern mit Reaktionen auf neue Umstände eine neue Lebenssituation reflektiert. Ein wichtiges Beispiel hat Marina Abramovic in ihrer Aufführung Biography (1992/93) im Frankfurter Theater am Turm gezeigt. Dort hat sie Teile ihrer früheren Performances, die sich mit physischen und psychischen Grenzerfahrungen auseinandersetzen, wieder aufgeführt, sie damit dokumentiert und in den Zusammenhang ihres Lebens gestellt. James Clifford sagte: "Es gibt nicht mehr das Nichts am Anfang". In der Performance steht am Anfang der Dialog, der mitten aus dem Leben der Kunstschaffenden und Betrachter gegriffen ist. Die Frage, wie aktionistische Arbeit aus vorhandenem Dokumentationsmaterial rekonstruiert werden kann, ohne die Dimension ihres Wirkungsspektrums ganz zu verlieren, werde ich an einigen Beispielen erläutern. Bei der Rekonstruktion der Arbeiten von 38 KünstlerInnen in der New Yorker Ausstellung Endurance bei Exil Art im Frühjahr 1995 wurde auf einfachste Mittel zurückgegriffen. Unter dem Thema der Endurance-Kunst, der Ausdauer und körperlichen Grenzerfahrung, haben die Kuratorlnnen chronologisch von den 60er Jahren bis 1994 eine Sammlung von Photos zu Schlüsselperformances gezeigt. Die schwarzweißen Aufnahmen waren auf ein Format vergrößert, das mit den Körpermaßen korrespondierte. Zu jedem Photo gab es eine Erklärung, meist mit einem Statement der Kunstschaffenden über ihre Arbeit. Durch den linearen Aufbau konnte die klar konzipierte Ausstellung einen eindrucksvollen Ueberblick über diesen speziellen Bereich der Körperkunst verschaffen.
Die Ausstellung Outside the Frame - Performance and the Object, die 1994 in Cleveland, Ohio und im Frühjahr 1995 in Snug Harbour auf Staten Island bei New York präsentiert wurde, hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Geschichte der Performancekunst in den USA seit 1950 zu dokumentieren. Diese Ausstellung war interaktiv und hauptsächlich an Installationen orientiert. Hier wurden zum Teil mit Hilfe der Kunstschaffenden einzelne Räume gestaltet, die jeweils eine Arbeit dokumentieren. Dazu konnten die originalen Requisiten und Objekte benutzt werden. Die Gegenwart der Kunstschaffenden wurde teilweise durch Videos und Geräuschkulissen ersetzt. Das räumliche und haptische Erscheinungsbild dieser Rekonstruktionen war atmosphärisch aussagekräftig und entstand durch eine zusätzliche schriftliche Aktionsbeschreibung vor den Augen der Betrachtenden wieder.
Besonders eindrucksvoll war die Arbeit Silver Lake with Dolmen Music (1980) von Meredith Monk. Der ursprüngliche Aufführungsort wurde hier als Klanginstallation wiederaufgebaut. Ein abgedunkelter Raum mit einem ovalen See aus reflektierender Silberfolie, umgeben von großen weißen Steinen, lud zum Betreten ein. Auf dem See standen sechs Stühle, die ursprünglich von den Performerlnnen benutzt wurden. Kopfhörer über jedem Stuhl ersetzten die Sänger. Die Dynamik der Performance und ihre meditative Stimmung übertrug sich direkt auf die Zuhörenden, sie werden selbst zu Handelnden und Teilnehmenden. Diese gelungene Ausstellung zeigte u.a. auch Arbeiten von Eleanor Antin, Joan Jonas und Anna Homler in ähnlichen Raumsituationen. Die Arbeiten anderer KünstlerInnen wurden anhand ihrer Objekte wie beispielsweise Kleider oder Möbel mit Photos und Texten gezeigt.
In der Ausstellung des Münchner Kunstvereins Oh boy, its a girl (1994) waren Photos von Carolee Schneemans Performance 'Up to including her limits' (1976) zu sehen. Sicher wäre es sehr spannend gewesen, das Resultat dieser Arbeit auszustellen, da Carolee als lebender Pinsel mehrere Stunden mit ihrem Körper eine Leinwand bemalt hatte. Ebenso könnte ich mir vorstellen, das photographisch dokumentierte Tapp- und Tastkino von Valie Export, mit dem sie 1968 durch die Straßen Wiens ging und jedem einen freien Zugriff auf ihren Busen gewährt hat, auch einmal im Original zu sehen.
Diese Art der Rekonstruktionsarbeit erfordert viel Zeit und Spürsinn. Aus diesem Grunde sind auch die “archäologische“ und die “forensische“ Herangehensweise an das Thema der Rekonstruktion von Theater und Performance interessante Arbeitsansätze. Diese beiden Methoden wurden im Seminar von Richard Schechner an der New York University im Frühjahr 1995 diskutiert und ausprobiert und haben zu verblüffenden Ergebnissen geführt. Der archäologische Ansatz will die flüchtigen Kunstwerke in den kulturellen Kontexten ihrer Entstehungszeit stellen und sucht dabei nach den spezifischen narrativen Strukturen, die damals vorherrschten, und die sich mit den Objekten verbinden. Die Archäologie als objekt-gebundene Wissenschaft ist keine objektive, sondern eine interpretative Arbeitsweise, und kann den sozialen und symbolischen Einsatz von Gegenständen erforschen.
Der forensische Ansatz ist immer ein kollektiver, fast kriminalistischer Arbeitsansatz zur Rekonstruktion einer Performance oder von Theater. Dazu werden Expertlnnen verschiedener Disziplinen benötigt, um die Einordnung und die Beweise der Existenz einer Performance zu erbringen. Die Präsenz eines nicht gegenwärtigen performativen Aktes soll nachgewiesen werden. Der Fall wird aufgerollt, indem Interviews mit Akteuren und ZuschauerInnen geführt werden, Materialproben analysiert werden, technische Anweisungen und Lichteffekte geprüft und Bilddokumente vom Ort des Geschehens herangezogen werden. Durch diesen kollektiven Einsatz erhält man als unwissende Betrachtende eine detailgenaue Kenntnis über den Ablauf und die Intention der Aktion. Dabei werden auch Brüche und Risse offengelegt und eine genaue Einordnung in den zur Entstehungszeit bestehenden Zusammenhang möglich.
Eine Performance ist ein einmaliges Ereignis, deren Rekonstruktion zu einem eigenen Kunstwerk werden kann, die aber auch als wissenschaftliches Konstrukt im kulturellen Kontext zu sehen ist. Dokumentations- und Rekonstruktionsmethoden müssen noch weiter ausreifen, damit uns wichtige Formen der Interpretationshilfen nicht verloren gehen. Weniger komplexe Kunstformen, die einfacher zu archivieren sind, wie etwa Malerei und Skulptur, haben es leichter in ihrem vollen Erscheinungsbild in Erinnerung zu bleiben. Deshalb ist es am besten, wenn das Publikum die Performance-Kunst unterstützt, ihre flüchtige Form zum Anlaß selbstreflexiver Betrachtung nimmt und “live“ dabei ist.


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