1993 beschreibt der indische Dramaturg, Regisseur und Schriftsteller Rustom Bharucha
seine langjährige Auseinandersetzung mit interkultureller Theaterarbeit, beginnend im akademischen Kontext in den USA, wo er vor allem die mythologisierende und enthistorisierende Rezeption indischer Theaterformen und -traditionen in Europa und Amerika analysierte. Praktische Erfahrungen sammelte er in einer „ interkulturellen“ Gemeinschaftsinszenierung von Franz Xaver Kroetz „Wunschkonzert“ mit dem deutschen Regisseur Manuel Lutgenhorst, die in Kalkutta, Bombay und Madras für den jeweiligen kulturellen Kontext neu erarbeitet wurde [...]

Seit vielen Jahren verfolgt mich ein Bild, das auch meiner Auseinandersetzung mit dem Interkulturalismus in meinem Buch „Theatre and the World“ zugrundeliegt.  Dieses Bild hat sich mir 1977, während einer Chhau-Aufführung in meiner Heimatstadt Kalkutta, eingeprägt. Ich sah zum ersten Mal Chhau, eine von vielen „Volks“-Tanztheatertraditionen mit starken rituellen und kriegerischen Elementen. Ich war überrascht von der „Fremdheit“ des Chhau, der sich von allem unterschied, was ich bis dahin an Theater in Bengalen gesehen hatte. Gleichzeitig mit der Chhau-Aufführung erinnere ich aber noch ein zweites, mit diesem einhergehendes Schauspiel, das sieh gleichzeitig vor der Bühne abspielte. Es war eine Darbietung, die eher unbewußt von einer Gruppe von „Interkulturalisten“ aus diesem Teil der Welt, aus Europa und den USA, aufgeführt wurde. Sie waren eifrig damit beschäftigt, während der Performance mit ihren Kameras Fotos zu schießen. Ich erinnere mich an meinen Blick auf ihre Rücken und ein glitzerndes Heer von Fotokameras, Zoom-Objektiven und Videokameras, was für mich zum damaligen Zeitpunkt zum Inbegriff westlicher Technologie und Macht wurde. Durch dieses Bild erkannte ich das Fremde an Chhau. Im Grunde eine gebrochene‘ doppelte Fremd- bzw. Andersartigkeit...
Ich habe mich damals gefragt - ohne bis dahin dem Wort „Interkulturalismus“ begegnet zu sein: Wer sind diese Leute? Was sehen sie? Und warum scheinen sie die Tausende (Inder) zu vergessen, die hinter ihnen sitzen? Heute denke ich über meine Fragen anders nach: Habe ich übertrieben auf diesen Anblick reagiert?  Inwiefern unterschied sich das Verhalten der Interkulturalisten von der Belagerung durch Fotografen bei Kulturveranstaltungen in Indien, an die man sich schon gewöhnt hatte? Wurden wir zu Voyeuren unserer eigenen Kultur gemacht, indem wir Chhau durch die Wand aus westlichen Körpern anschauten? Bis zu welchem Grad ist Chhau Bestandteil „unserer“ Tradition? Was ist überhaupt unsere „Tradition“?

In einem stärker kritischen und politischen Zusammenhang stellen sich weitere Fragen. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich, indem ich diese leicht tendenziösen Fragen stelle, eine der schwierigsten internationalen Debatten bezüglich des Rechts auf geistiges Eigentum ausweite. Ist die Vorstellung von einem „kulturellen Eigentumsrecht“ in bezug auf die biokulturelle menschliche Vielfalt (diversities) eingeborener Völker (indigenous people) haltbar? Oder sind diese „Diversitäten“, wie Samen und Organismen, als „Universalien“ anzusehen, leicht zugänglich, überallhin zu transportieren, um vielleicht eines Tages von multinationalen interkulturellen Aktiengesellschaften patentiert zu werden?

Es versteht sich von selbst, daß ich 1977 nicht in der Lage war, eine solche Frage zu stellen. Aber ich machte damals eine Fußnote in meinem Gedächtnis: Daß die Interkulturalisten hier sind, liegt daran, daß sie eingeladen wurden. Sie waren keine Eindringlinge, sondern Gäste der lokalen Impresarios, die ihrerseits den staatlichen Kulturorganisationen unterstellt waren. Von dieser Tatsache ausgehend, bin ich zu der Auffassung gelangt, daß Interkulturalismus weder einfach ein spontanes Zusammentreffen von Unterschieden, noch die euphorische Rückkehr in einen Zustand vor-(national)staatlichen menschlichen Zusammenseins oder lediglich eine Frage der Dominanz eines kulturellen Systems über ein anderes ist. (Für letzteres spricht allerdings schon allein die Tatsache, daß Interkulturalismus unverändert vom Westen finanziert, theoretisiert und rhetorisiert wird, während nicht-westliche Kulturen auf Material, Techniken und Sachverständnis unter minimaler Eigenbeteiligung reduziert werden. Vor allem aber sind sie so gut wie gar nicht an der Konzeptionierung des Rahmens beteiligt, in dem eine interkulturelle Begegnung plaziert wird.) Wie auch immer, wenn Interkulturalismus auch nicht ausschließlich durch Dominanz entsteht, so doch durch eine Serie von Komplizenschaft zwischen Machtsystemen, die letztlich durch den Staat und zunehmend durch den Markt (was in vielen Fällen ein und dasselbe ist) bestimmt werden. Welche „Autonomie“ auch immer eine interkulturelle Begegnung für sich in Anspruch nimmt, sie wird unweigerlich begrenzt durch dieses größere Szenario.
[...]
Rustom Bharucha
In Theater der Zeit Sept./Okt. 1995


http://www.asa.de
Das Copyright für ASA-Beiträge liegt uneingeschränkt beim ASA-Köln
Das Copyright für Beiträge von anderen Quellen liegt bei dem jeweiligen Autor