Ausschnitt aus einem Interview mit Boris Groys ( G ) im April 1997 über Fotografie geführt mit Stefan Banz ( B )
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B:  Ich möchte nun auf die Fotografie zu sprechen kommen. Sie schreiben am Anfang Ihres Essays „Die Wahrheit in der Fotografie“, dass die Fotografie — aufgrund ihrer mechanischen Abhängigkeit gegenüber der Kamera — kein Anrecht auf individuelle Identität habe. Ich möchte nun fragen: Besitzt sie nicht vielmehr eine individuelle Identität auf einer Art zweiten Realitätsebene? Persönlich glaube ich, dass wir uns in unserer Realität fortwährend auf verschiedenen Ebenen befinden. Das beginnt schon dann ... wenn wir hören, dass jemand gesagt hat und jemand erzählt uns ... dann klingelt das Telefon ... und im Fernsehen kommen die Nachrichten ... das sind schon vier-fünf verschiedene Realitätsebenen. Alle diese Erlebnisse verschmelzen zu einer Realität, die wir die unsere nennen. Und wenn die Fotografie auf einer ersten Ebene keine individuelle Identität hat, weil man sich auf dieses Glück oder diesen Zufall der Mechanik des Apparates verlässt, besitzt sie vielleicht doch auf einer zweiten Realitätsebene diese individuelle Identität
G:  Ja, die Fotografie hat sicherlich diese Identität, das ist ganz klar. Gute Fotografen sind ja sicherlich zu erkennen. Nur ist die Herstellung dieser Individualität und dieser Distinktion viel reflektierter. Was ich hier in diesem Text gemeint habe, ist einfach, dass der traditionelle Maler glaubte, sich auf eine gewisse malerische Handschrift verlassen zu können, so wie ein Fingerabdruck. Er hatte ein gewisses Vertrauen in seinen Körper, dass dieser Körper bereits die Individualität herstellt, auch wenn er strategisch nicht damit arbeitet.
B:  Das kann ich sehr gut nachvollziehen, nur glaube ich, dass wenn man in letzter Konsequenz den Akt der Malerei untersucht, auch er von Dingen abhängig ist, die letztlich nicht bis zur letzten Instanz kontrolliert werden können; er bedient sich vorgefertigter Pinsel, vorgefertigter Farben, die vor allem heute, im 20. Jahrhundert aus der Tube kommen. Wir entfernen uns (auch) da immer mehr von dieser absolut urgeschichtlichen Unmittelbarkeit und Vertrauen immer mehr auf Hilfsmittel, die schon vorgefertigt sind.
G:  Das ist völlig klar.
B:  Deshalb finde ich, dass sich das Problem (oder der Vorteil oder wie immer man es nennen will) der Fotografie im Verhältnis zur Malerei, zur Skulptur oder zum Video an einem anderen Punkt ausdrückt. Ich behaupte, die Fotografie ist das abstrakteste Medium, welches überhaupt existiert, weil es aus der Realität, aus dem sich fortwährend ereignenden Leben, nur einen Bruchteil einer Sekunde abbildet. Und weil es nur einen Bruchteil einer Sekunde festhält, ist es das geeignetste Medium, um alle Missverständnisse, die es auf der Welt gibt, zu verbildlichen und zu schüren. Das ist, wie wenn ich aus Ihrem Text „Die Wahrheit in der Fotografie“ nur ein einziges Wort herauspicke. Ich kann mit diesem Wort machen, was ich will, immer gibt es eine ihm entsprechende, plausible Anwendung oder Lösung. Diese Lösung aber hat unter Umständen nur sehr wenig damit zu tun, was Sie in Ihrem Essay auf 18 Seiten ausdrücken wollten. Das heisst, unser Leben spielt sich in der Zeit ab, und das Medium Fotografie ist gegen die Zeit, wenn man so will. Weil sie aber gegen die Zeit und in diesem Sinn ein abstraktes Phänomen ist, ist sie gleichzeitig die beste Differenz zum Leben. Und weil sie die beste Differenz ist, ist sie möglicherweise auch das inspirierendste Mittel, das Wesenhafte des Lebens festzuhalten und zu analysieren. Gleichzeitig aber ist sie vielleicht auch das mythischste. suggestivste, emotionsgeladenste Medium, weil sie etwas sichtbar macht, was wir Menschen im Grunde nicht erleben können, was im Grunde nicht unserem Wesen entspricht: das Wahrnehmen des Moments als Leben.
G: Ja, wie gesagt, was die Realität anbelangt und das Verhältnis zur Realität, dafür bin ich wenig zuständig. Realität — ich weiss nicht, was das ist. Aber wenn man Fotografie jetzt nicht mit der Realität vergleicht, sondern mit anderen Medien, dann fällt tatsächlich eine Differenz auf. Ich würde die Differenz darin sehen, dass der Ursprung der Fotografie in einer offensichtlichen Weise verloren geht. Was meine ich? Wenn ich ein Bild sehe, dann ist das Bild tatsächlich ein Gegenstand dieser Illusion der Realität, der Abbildung. Alle Elemente sind da: Die Leinwand, die Farbe etc. Alles, was passiert, ist da an diesem Ort passiert. Das ist auch der Grund, warum eine analytische Malerei möglich ist. Das heisst, ich kann jetzt beginnen, dies zu analysieren. Ich kann die Leinwand analysieren, die Farbe analysieren, ich kann die Farbe trennen etc. Und wir bekommen im Sinne von Clement Greenberg diesen ganzen analytischen Prozess. Alles, was in der Malerei passiert, ereignet sich im und am Bild selbst. Nehmen wir Video: Video besteht aus sehr viel Technik, Hardware, aber in den meisten Videoausstellungen wird darüber sehr wenig reflektiert. Das ist für mich ein Beweis, dass Videokunst erst angefangen hat, sich selbst zu etablieren und zu reflektieren. Diese Hardware wurde bisher nicht genügend reflektiert. Aber sie ist da, und wir können sie erleben, auch im Falle von Computer. Mit anderen Worten, was in der Fotografie fehlt, ist der Fotoapparat. Das heisst, das, was ich sehe, passierte nicht in der Fotografie selbst, sondern in einem Gerät. Und dieses Gerät sehe ich nicht. Fotografie ist eine Figur des verlorenen Ursprungs. In diesem Sinne hat sie tatsächlich etwas mit dem Diskurs von Derrida und Barthes zu tun. Und es ist im Zusammenhang mit diesen Diskursen kein Zufall, dass sie in den letzten Jahren so populär geworden ist, weil da dieser Bruch mit dem Ursprung, mit dem Moment des Entstehens, diese materielle Verbundenheit mit dem Prozess, auf eine offensichtliche Weise verlorengegangen ist. Ich weiss nicht, wie die Fotografie entstanden ist, und wenn ich die Fotografie analysiere, wie dies Greenberg vorschlägt, komme ich zu nichts, weil die Prozesse, die die Fotografie hervorgebracht hat, nicht in diesem Rahmen der Fotografie selbst stattfindet.
B:  Empfinden Sie dies als Verlust?
G:  Ja, es ist Verlust des Ursprungs, Verlust der Materialität, es ist Verlust der Reflektivität, der Verlust von all dem, was wir jetzt im Rahmen gewisser Diskurse zu thematisieren, zu geniessen und zu mögen gewohnt waren. Das ist die Grenze der Fotografie. Es ist auch eine gewisse Grenze, ich glaube nicht, dass die Fotografie grenzenlos in ihrer Geltung ist. Es gibt Dinge, die man in der Fotografie nicht machen kann. Es gibt im Unterschied zur Malerei, zu Computer oder Video zum Beispiel nicht diesen analytischen Prozess. Fotografie ist immer ein Hinweis auf etwas, das woanders stattgefunden hat. Dieses etwas ist nicht da. Es gibt keine Präsenz. Fotografie ist tatsächlich ein Spiel mit der Präsenz, eine Präsenz in des Absenz. Sie ist Spur des Materiellen, aber nicht Materialität selbst. Das wurde schon sehr früh gesehen, zum Beispiel auch von Siegfried Kracauer in seinem Aufsatz „Fotografie“, wo er schreibt: Fotografie ist Abfall, ist das, was man eigentlich wegwirft. Das ist sehr richtig, Fotografie ist immer Müll. Es ist auch sehr wichtig, dass wir im Grunde kein Bedauern haben, wenn wir eine Fotografie zerreissen und wegschmeissen. Sogar mit einer ganz schlechten Malerei tun wir das nicht. Wir tun das ganz bestimmt nicht mit einem Videogerät oder mit einem Computer, aber wir können eine Fotografie zerreissen und wegschmeissen, weil wir wissen, dass das Wichtigste woanders stattfindet.
B:  Weil wir noch das Negativ besitzen. Mit dem Wegwerfen des Negativs ist es schon etwas schwieriger.
G:  Mit dem Negativ ist es schwieriger, aber es ist nicht das, was wir in der Ausstellung sehen. Fotografie hat etwas müllartiges an sich, etwas, was man eigentlich wegschmeissen sollte, und das ist sicherlich sowohl faszinierend als auch problematisch. [...]

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