Echte Bilder - Falsche Körper

Auf dem Fotomarkt vollzieht sich mit der Digitaltechnik eine Zeitenwende. Der Papierabzug, auf dem das Kamerabild auf alle Zeit fixiert gewesen war, gehört bald der Vergangenheit an. Die digital hergestellten Fotos lassen sich augenblicklich und weltweit versenden, wie sie sich auch jederzeit bearbeiten lassen. Es zählt nicht mehr der Moment, in dem wir den Auslöser bedient haben. Wir können immer wieder auf unserem PC die Taste „Enter“ drücken, um unser Pixelfabrikat zu speichern oder zu verändern. Die Digitaltechnik revolutioniert „die Art, wie Menschen Bilder machen, ansehen, wie sie sich an sie erinnern“. So konnte man es kürzlich in einem Artikel lesen, der im „Spiegel“ überschrieben war: „Bilder ohne Geschichte“.
Damit ist die Referenz zwischen Bild und Körper angesprochen, die in der menschlichen Bildgeschichte eine zentrale, wenngleich sehr verschiedenartige Rolle spielte. Die Frage lautet heute, ob die Referenz auf Körper inzwischen ausgefallen ist oder ob sie in anderer Form weiterlebt, über die wir uns noch nicht schlüssig geworden sind. Unser Eindruck vermittelt uns zunächst die Körperflucht der Bilder, die in der Malerei schon längst stattfand, aber nun auch die Fotografie einholte. Bilder scheinen echter zu sein als Körper und faszinieren uns mehr als Körper, indem sie uns von unseren Körpern zu befreien scheinen.
Auf der Körperseite begegnen wir einem anderen Szenarium, in dem die Bildfrage dennoch eine ebenso große Bedeutung gewinnt, auch wenn sie einstweilen noch unentdeckt erscheint. Der Körper wird in den einschlägigen Utopien als Projekt einer Biotechnologie verstanden, die ihn unter ihre Kontrolle bringen will. Der Gen-Code ist Träger von Informationen, in denen sich die Gattung Mensch ebenso wie jedes einzelne Individuum abbildet, in dem Erbsatz nämlich, den wir in jeder einzelnen Zelle tragen. Während auf der einen Seite die digitalen Bildwelten auf virtuelle Körper ausweichen, entzieht uns auf der anderen Seite der genetische Code in einem analogen Ikonoklasmus die visuelle Evidenz dessen, was wir heute vom Körper wissen oder wissen wollen.

Das kulturelle Klischee der Schönheit triumphiert
Doch sind wir damit die Bilder, mit denen wir schon so lange leben, noch keineswegs losgeworden. Stellen wir uns nämlich jene Körper vor, die Wir haben oder, besser, in Zukunft machen möchten, so sind wir gleich wieder auf unseren Bildhaushalt angewiesen. Solche Bilder sind nämlich mitnichten wissenschaftlichen Ursprungs, sondern bilden kulturelle Klischees in dem Sinne, daß wir vom schönen, gesunden und unsterblichen Körper träumen, in dem wir über das Gesetz der Zeit und des Schicksals triumphieren. Die Utopien von der Zukunft des Menschen sind mit Bildern besetzt, die derzeit Konjunktur haben. In einer Art vorauseilenden Gehorsams bereiten sich Geisteswissenschaftler, sofern sie nicht entmutigt oder verständnislos beiseite stehen, darauf vor, in der amerikanischen „Posthuman“-Debatte den Menschen von morgen eifrig mit neuen Diskursen in Empfang zu nehmen. Man möchte am liebsten „Anthropologe auf dem Mars“ spielen, um einen Titel von Oliver Sacks zu zitieren. Die Analogie von Körper und Bild spielt keine normenstiftende Rolle mehr. Wir vergöttern Bilder, die uns vom Körper erlösen, und beweisen dadurch, daß die alte Referenz zwischen Bild und Körper aus dem Blick gerät. Sie stellt ein ganz anderes Thema dar als die Kooperation von Körper und Technik, die in der Anthropogenese eine entscheidende Rolle gespielt hat, aber hier nicht mein Thema ist.
Der Verlust der wechselseitigen Referenz erklärt sich aus der Dekonstruktion, die am Körperbegriff ebenso wie am Bildbegriff stattgefunden hat. Beginnen wir mit der Bildfrage. Es kann kaum überraschen, daß in der Informationsgesellschaft, als die wir uns verstehen, Bilder sich auf ihren Wert als Informationen reduzieren. Wir scheinen nichts anderes mehr als Informationen zu brauchen, um heute mit der Welt zu kommunizieren. Folglich werden Bilder nur noch in dieser Kategorie gesucht. Wir ereifern uns allein noch über die Frage, in welcher Weise visuelle Informationen heute solche in Texten ablösen. Das ist der übliche Sinn im Begriff des „Iconic Turn“. Bildfragen scheinen sich also auf den einzigen Aspekt zu beschränken, Bilder als Träger von Informationen technologisch und epistemologisch zu optimieren. Dabei ist immer nur von dem Wissen die Rede, das in den Bildern übertragen wird. Ich nenne nur das Stichwort „Imaging Science“. Dagegen bleibt das Wissen um die Bilder, um ihren Nutzen und ihre Probleme, außer Betracht. Ein solcher Reduktjonismus ist Anlaß zum Widerspruch, denn er gibt große Teile des Sinnspektrums preis, mit dem uns die Bilder aus ihrer langen Geschichte entgegentreten. Die Gründe für den Reduktionismus sind ideologischer Art, indem wir das heutige Verständnis von Wissenschaft absolut setzen und die Bilder allein nach ihrem technologischen Profil bewerten. Die Bedeutung von Repräsentation reduziert sich dabei auf die Repräsentation von Wissen, die rasch zur Repräsentation von Macht gerät. Die Begriffe Weltbild und Menschenbild entleeren sich dagegen zu bloßen Metaphern, in denen Ideen ohne meßbaren Informationswert fortbestehen. Der Kategorienschwindel besteht heute darin, den Reduktionismus im Bilddiskurs (Bild = Information) automatisch auf einen ganz anderen Reduktionismus (Mensch = Körper und Körper = DNSFormel) zu beziehen. Bilder schrumpfen dabei auf eine visuelle, ebenso wie Körper auf eine genetische Information.
Die alte Analogie von Bild und Körper ist indessen so programmatisch und so kontrapunktisch angelegt, daß sie sich auf keine bloße Gleichung reduzieren läßt, so wie sie im vereinfachenden Begriff des Abbilds gedacht wird. Analogie ist keineswegs ein Problem von Ähnlichkeit, sondern ein solches der Referenz. Der Unterschied besteht darin, daß Bilder, wie ich sie hier verstehe, von der Absicht geleitet waren, Menschen darzustellen, wenn immer sie Körper darstellten. Die Referenz zielte oft auf eine Idee des Subjekts, die sie am Körper sichtbar machen wollte. Schon dieser doppelte Bezug auf sichtbare Körper und unsichtbare Subjekte schloß jeden banalen Gebrauch von Abbildlichkeit (hier das Reale, dort seine Verdoppelung im Bild) aus. Dennoch blieb der Körper als „piéce de résistance“ im alten Schauspiel der Referenz eine feste Bezugsgröße, auch wenn man ihn semantisch oft genug dekonstruieren mußte, um ihn erst im Bild wieder als Ganzes zu rekonstruieren.
Inzwischen findet sich der Begriff der Analogie zu Unrecht durch die einfache Bilanz abgewertet, die in der Medienwissenschaft zwischen analogen und digitalen Techniken, zwischen Foto von einst und virtuellem Bild aufgemacht wird. Diese Formel verfolgt doch nur den Zweck, die analogen Bilder, als Kontrastfolie, gegen die digitale Revolution abzuwerten. Die Analogie von Körper und Bild ist aber als Rechnung nie aufgegangen und läßt daher beide Parameter im Endeffekt als offene Größen zurück, doch ist sie für die wechselnde Spiegelung des Körpers im Bild unverzichtbar gewesen. Es handelt sich dabei nicht um den Körper, wie ihn Neurologen und Biologen definieren, sondern um den Körper als Leib und als Selbstausdruck des Menschen. Dazu gehört nicht nur die Genderthematik, sondern auch die kulturelle Disposition des Körpers, in der wir uns im Westen von anderen Kulturen unterscheiden. Man kann deshalb von Erscheinungskörper, im Unterschied zum biologischen Körper, sprechen. Der Körper ist als Repräsentant des Menschen immer auch ein bevorzugter Ort von Repräsentation gewesen, was bedeutet, daß er auf viele Weisen darstellungsfähig war, und sei es zur Abgrenzung gegen ein Selbst (Geist oder Seele), das im Körper einen Gegenpart oder, in der Diktion von Descartes, den Kapitän darstellte.

Die Analogie von Körper und Bild wird heute geleugnet
Körper haben aber diese Repräsentation niemals mit eigenen Kräften geleistet, sondern waren darauf angewiesen, mit exogenen Bildern zu kooperieren oder in ihrer Umwelt selbst als Bilder zu agieren, zum Beispiel durch Maske, Kleidung und Gestik. In diesem Austausch zwischen Körper und Bild entstand die fragile Balance, in der Menschsein als Idee ausgehandelt wurde. Körper tragen das Menschenbild, nach dem wir auch heute wieder suchen, nicht als Formel in sich, sondern empfangen es erst als kulturelle Setzung und also von außen. Die historischen Körperbilder beweisen die ruhelose Dynamik im Begriff vom Menschen. Es hat das stabile Menschenbild, das man heute so gerne beschwört, in Wahrheit nie gegeben, nicht einmal im Christentum, dessen anthropologische Kontinuität eine bloße Schutzbehauptung ist. Körper haben in der Bildgeschichte immerzu neue Menschenbilder auf sich gezogen. Ich spreche nicht vom Leib, der in der deutschen Geisteswissenschaft eine so lange Begriffstradition besitzt, sondern vom Körper, um den Biologen und Neurologen ihr heutiges Monopol auf den Körperbegriff streitig zu machen.
Die Analogie von Körper und Bild wird aber heute an allen Fronten geleugnet, und sei es, um die Bilder von der Last der Referenz auf Körper zu befreien. Eine solche Krise der Referenz ist in der Geschichte der Bilder nichts Neues und kann daher auch nicht allein der Faszination neuer Technologien gutgeschrieben werden. Neu ist allerdings, daß die Krise auf Kosten des Körpers und nicht auf Kosten der Bilder geht. Sie zeigt auch darin ein neues Gesicht, daß es nicht mehr um die Analogie der Bilder mit dem Körper geht, sondern umgekehrt um die Analogie des Körpers mit Bildern, an denen er gemessen wird. In ihrer Selbstreferenz machen Bilder uns die körperliche Welterfahrung streitig, an deren Stelle sie uns eine Bild-erfahrung aufdrängen. Die Reaktionen auf diese Krise sind bekannt. Entweder akzeptieren wir gar keine Bilder mehr, wo es heute um Körperfragen geht, oder glauben wir nur noch an Bilder, vor allem an solche, in denen wir die Erinnerung an unsere Körper loswerden können, nämlich in der virtuellen Realität.
In den derzeitigen Utopien radikalisiert sich der alte Konflikt, der zwischen Natur und Kultur immer wieder ausgebrochen ist. Man konnte sich aber von der Natur bisher nicht in den Körpern, sondern nur in den Bildern befreien, über welche die Menschen selbst verfügten, indem sie mit Bildern den Aufstand der Kultur gegen die Natur probten, die wir im Körper in uns tragen. Die heutige Situation unterschiede sich darin von allen geschichtlichen Situationen, wenn Ernst damit gemacht würde, die Differenz von Bild und Körper aufzuheben, wie es heute zwar nicht in der Genforschung, aber in den Utopien der Gentechnologie antizipiert wird, wenn wir also in den Körper so eingreifen wollten, wie wir sonst immer mit Bildern verfahren sind. Dafür steht uns das Leitbild des „neuen Menschen“ dann zur Verfügung, in dem das „Mängelwesen“ Mensch, wie ihn Herder nannte und Arnold Gehlen definierte, überwunden werden soll. Die politische Dimension der Bildfrage kommt schon darin zum Ausdruck, daß sie in diesem Diskurs gar nicht erscheint, als müsse verhindert werden, daß wir hinter der streng naturwissenschaftlichen Debatte die kulturell bedingten Bilder entdecken und damit auf den faulen Kern im Forscherdrang stoßen.
Die Bildfrage stellt den blinden Fleck in der Gendebatte dar. Die Verwechslung von Körper und Bild ist das Kennzeichen der heutigen Kultur. Mit ihr kommt eine Grenze in Sicht, die Bilder nie überschritten haben, ohne daß die Betrachter in der Katastrophe endeten, wie es in einem anderen Sinne so eindrucksvoll im Mythos des Narziß überliefert ist. Auch Oscar Wildes Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ über ein Porträt, das eine Zeitlang den Alterungsprozeß seines Modells auf sich lenkte, handelt von einer Tabuverletzung und endet mit einem ungewollten Selbstmord, wobei sich die Differenz von Bild und Körper, von Bildnis und Person wiederherstellte. Bilder blieben in der Regel nichts als Bilder und ließen sich als solche rasch durch immer wieder neue Bilder ersetzen, die eine andere Generation zufriedenstellten. Solange sie Distanz zum körperlichen Leben hielten, waren sie ohne Risiken austauschbar. Die Differenz zwischen Bild und Körper war auch die Differenz, wie sie zwischen Kultur und Natur besteht. Das ist die Grenze, von der ich hier spreche. Die Analogie drückte sich nicht nur im Wechselbezug zwischen der Realität des Körpers und der Fiktion des Bildes aus. Sie diente auch dazu, ihre beiderseitige Defizienz auszugleichen. Bilder waren dadurch defizient, daß sie immer Bilder blieben und nie Körper werden konnten, und mochten sie sich auch mit dem Körper noch so sehr assimilieren oder assoziieren. Körper waren wiederum dadurch defizient, daß sie immer Bildern unterlegen waren, denn Bilder zeigten perfekte Körper und waren im Gegensatz zu Körpern nicht sterblich.
Diese Rollenverteilung war der Motor der menschlichen Bildpraxis. Sie wird heute verabschiedet, wenn wir die Verfügbarkeit, wie sie für Bilder galt, auf Körper übertragen. Körper waren doch stets respektiert als das Unverfügbare und Gegebene (weshalb im Gegenzug Bilder auf den Plan gerufen wurden). Die Verführung besteht heute darin, das Bildermachen am Körper selbst zu vollziehen und also Körper ähnlich wie Bilder zu erfinden, womit ein Bilderverbot überschritten wird, das sich jetzt auf den Körper bezieht. Diese Vision liegt in der nahe rückenden Utopie, eine neue Spezies „nach dem Bilde“ zu erschaffen, das wir derzeit von uns selbst haben. Ad imaginem sui, so könnte es in einer Paraphrase des biblischen Schöpfungsberichts heißen. Können aber die Bilder, an denen wir Maß nehmen wollen, mehr sein als die Klischees der aktuellen Gesellschaft? Und berauben wir nicht die nächsten Generationen heute schon ihrer Wahlfreiheit, wenn wir die Körper programmieren, in denen sie aufwachsen werden? Sie werden nicht einmal wissen, nach wessen Bild sie erschaffen wurden und welches Bild sie im Körper tragen. Vielleicht werden sie auch ganz andere Bilder träumen als wir, nachdem sie bereits selbst, nämlich in ihrem Körper, unser Bild geworden sind.
Diese Verwechslung von Körper und Bild ist als Gedankenspiel (denn einstweilen geht es um nichts anderes) deswegen möglich, weil wir die Begriffe für ihre Analogie, in der auch ihre beiderseitige Differenz aufgehoben war, verlieren. Das erleben wir in allen Bereichen unserer Kultur, aber in dem Kontext, von dem hier die Rede ist, entlarvt dieser Begriffsverlust seine gesellschaftspolitische Dimension. So kommt es zu jener Verwechslung von Bild und Körper und zugleich von Wissen und Wissensgebrauch, die wir in der Gen-Debatte erleben. Hier zeigt sich auch ein widersprüchlicher Zusammenhang zwischen dem gängigen Ikonoklasmus, von dem derzeit alle bisherigen Vorstellungen des Körpers erfaßt werden, und andererseits der Entstehung neuer Bilder, die sich diesmal in Gestalt von Körpern realisieren sollen. Anders gesagt, räumen wir derzeit alle Bilder des vorhandenen Körpers weg, die unsere Imagination beschäftigten, und schaffen dadurch Raum für Körper neuer Art, die als Bilder entstehen sollen. Das wäre aber keine bloß biologische, sondern eine anthropologische Revolution. Mit ihr wäre die bisherige Geschichte von Bild und Körper, die so oft als Gegenspieler auftraten, zu einem Ende gekommen.

In den Selbstbildern spiegelt sich die Selbsterfindung 
Die Körperfrage bedarf jetzt noch einer Klarstellung, um Mißverständnisse zu vermeiden, die mich in eine falsche Ecke stellen würden. Die Stichworte Natur und Kultur, die ich gebraucht habe, beziehen sich nicht auf das Thema der sogenannten Anthropogenese, in welcher die Symbiose mit sein er eigenen Technik den Menschen stets zum Träger von Evolution und sogar von Selbsterfindung machte. Vielmehr spreche ich von jener anderen Evolution, die sich in den Bildern spiegelt, die der Mensch von sich selbst erzeugte, indem er sie stets wieder gegeneinander austauschte in der wechselnden Referenz auf seinen Körper. Deswegen beziehen sich die Stichworte Natur und Kultur in meinem Kontext nicht auf den alten Diskurs von Geist und Materie, weshalb sie auch nicht für die metaphysische Abwehr gegen die Natur oder aber gegen die Technik geltend gemacht werden können.
In der Antithese von Subjekt und Objekt, die das Verhältnis von Mensch und Ding klären wollte, blieb gerade die Körperfrage eigenartig unterbelichtet oder ambivalent. Ist der Körper nämlich als Objekt oder als Subjekt einzuordnen? Meist wurde er vom Subjekt als seinem Bewohner wie ein Ding unterschieden, womit man ihm heute nicht mehr beikommen kann. Beschreibt man den Körper im Licht der Bildfrage, dann sieht das Verhältnis von Natur und Kultur ganz anders aus. Körper sind Natur im Hinblick auf Bilder, wie diese wiederum Kulturprodukte sind im Hinblick auf Körper. Deshalb habe ich dieses Verhältnis paradigmatisch aufgefaßt. Ikonik und Somatik bedürfen einer neuen Debatte. Die Interaktionen von Bild und Körper bergen eine Fülle von Einsichten in all das, was in der Philosophiegeschichte oft zu kurz kam.
Die Zeitenwende, vor der wir stehen, zwingt uns zu einer Neubestimmung von Anthropologie. Es kann sich nicht darum handeln, den konservativen Rettungsanker auszuwerfen und vom unwandelbaren Wesen des Menschen zu sprechen, das durch die Geschichte längst widerlegt ist. Ähnliches gilt von der humanistischen Menschenauffassung, die der Philosoph J. L. Nancy einer berechtigten Kritik unterwirft, wenn er schreibt, hier habe sich der Mensch „seiner eigenen Idee oder der Idee seines eigentlichen Wesens“ unterworfen, nämlich in einem Akt der „Selbstnachahmung“. Andere Menschenbilder kommen dabei ins Spiel. Nicht einmal die „Post-human“-Debatte entkommt dem Menschenbild, das sie vorne verabschiedet und durch die Hintertür wieder zurückholt. Die Menschenbilder sind gekommen und gegangen, aber der Körper blieb und hinterließ in diesem Kommen und Gehen seine Spur, sein Vestigium, wie Nancy diesen Index des Menschen nennt. Die Debatte um den Körper, die heute begonnen hat, ist Anlaß genug, ihn zum Thema einer neuen Anthropologie zu machen, die sich nicht mehr in humanistischen oder theologischen Idealen verliert, sondern aus gegebenem Anlaß härter argumentiert. Es reicht nicht aus, für den Körper eilig den Grenzschutz von Ethikern und Juristen herbeizurufen. Es bedarf einer anthropologischen Basis, um nach einem Konsens zu suchen. Die Bildfrage, die mein Thema war, stellt dabei nur einen Aspekt dar. 
Hans Belting. (Der Verfasser lehrt Kunstwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Sein
Artikel ist die gekürzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der Felix Burda Memorial Lectures in München.)
 


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