Auszüge aus Doppleranarchie Wien 1967 - 1972,
Fotos von Lisl Ponger
Das erstemal sah ich sie in einer hohen, weitläufigen Altwiener
Wohnung am Nestroyplatz in der Leopoldstadt. Der schöne Herbst des
Jahres 1968 brachte viel Neues in mein Leben, nicht zuletzt jene seltsame
Zusammenballung von Menschen in Wohnräumen, die man damals noch Kommune
oder schon Wohngemeinschaft nannte, je nachdem. Dort, in so etwas wohnte
Lisl Ponger, und mitten unter vielen bunten Bildern hat sich mir das dieser
jungen Frau mit Wuschelkopf und Kamera besonders eingeprägt.
Später sah ich sie immer wieder, in Cafés (viele standen
nicht zur Auswahl), bei Festen oder in Wohnungen. Sie wirkte cool, wie
selbstverständlich dabei, anders als ich, dem alles sehr spannend
und aufregend erschien. Ich war von ihr sehr beeindruckt, sie von mir selbstverständlich
überhaupt nicht. Sie nahm mich nicht einmal wahr. Lisl Ponger erinnert
sich einfach nicht an mich.
Das ist bitter, kann aber gemildert werden. Denn manche Leute auf ihren
Fotos vermag sie heute nicht mehr zu identifizieren (von der Tatsache,
daß ich auf ihren Fotos nicht vorkomme, wollen wir hier absehen).
Der Grund: Lisl Ponger versteckte sich hinter ihrer Kamera, um quasi ungesehen
dabeisein zu können, sagt sie, um schützende Distanz zwischen
sich und die Ereignisse zulegen. Auch, um sich vor der Sogwirkung der gemeindebildenden
Kunst-Unternehmer wie etwa Mühl, Nitsch, Weibel zu hüten, deren
Arbeiten sie teilweise dokumentierte.
Schlecht behandelt ist sie sich mitunter dabei vorgekommen, ausgenützt,
oft gab es die Streitereien, wem die Negative gehören. Dabei hatte
sie ohnehin schon ein gestörtes Verhältnis zur Fotografie.
Nicht, weil ihr Vater Fotograf war, weil sie selbst die Grafische besuchte.
Nein. Sie war einfach unzufrieden mit der Kamera. Freudig beendete sie
1978 ihr gestörtes Verhältnis, als sie den Film entdeckte.
Für die Kamera als Schutz und Notwendigkeit weiß Lisl Ponger
allerdings noch einen Grund. In den Gruppierungen der einschlägigen
Subkultur hatten Frauen nur eine Chance, wenn sie etwas taten. Die einzigen
Taten, die galten, waren selbstverständlich Kunst-Taten. Künstlerwahn
nennt Lisl Ponger das heute. Die Alternative, bloß die Freundin einer
führenden Szenepersönlichkeit oder schlicht ein Szenegroupie
abzugeben, kam für sie nicht in Frage. Auf den Fotos finden sich also,
wie man bemerkt, nicht allzu viele Frauen.
In Wahrheit sind es Schnappschüsse, ein Familienalbum, das nach
zwanzig Jahren zufällig wieder aufgeschlagen wird. Eine Alltagsdokumentation
als Art subtiler Rache am mythenbildenden Kunstzwang. Vielleicht ist subtile
Rache nur ein anderes Wort für eine Erinnerung, die noch imstande
ist, sich selbst ins Auge zu schauen. Und sei das Auge ein Objektiv.
Armin Thurnher (nach einem Gespräch mit Lisl Ponger, März
1990)
(Moment bitte, kleinen Moment, das kommt mir doch bekannt vor: Wenn
ich da genau hinschau, dann könnten das die, der, diese von damals
sein, aber heute, von so augenblicklicher Sicht aus, nein unmöglich,
was oder wie soll ich denn das vom Foto herunter...)
Da mach ich nicht mit, was da vor mir liegt, das widert mich an, das
stinkt nach Zeit, das brütet faul im Nest längst abgelegter Euphorie,
da mach ich nicht mit, das beschreibe ich nicht, diese Tölpel in
ihrer Sicherheit, diese Meister in ihrem Siegesrausch, diese rotzige Haltung,
da wird mir übel, das bin ich nicht mehr, da mach ich nicht mit,
da hab ich vielleicht, so am Rand, mitgemacht, mit dieser Zeit, dieser
Strömung, das riecht so nach wenig Luft, nach wenig Raum, nur Zeit,
Zeit für Feste, kling klang, Zeit fürs Saufen, Saufen als Haltung,
das kenn ich, da mach ich nicht mit, das alles noch einmal heraufbeschwören,
da setz ich die dunkle Brille auf, das will ich nicht sehen, das tut mir
weh, diese ganze Partie, diese Armut, dieses zur Schau gestellte Sandlertum,
dieses Elend, diese Randgruppe, dieses TUM, dieses wahre Gesicht, diese
frechen Verlierer, das halt ich nicht aus, da blick ich nicht hin, das
ist vorbei, dieses Künstlerpack, diese Originale von Kopien, diese
ranzige Ostblocköde, diese Nähe zum Eisernen Vorhang, diese (Polizei)Uniformen,
diese Hippieröcke, das darf doch nicht wahr sein, das kommt sicher
wieder, und trotzdem, da mach ich nicht mit, diese irrwitzige Revolte
im Wirtshaus und in der Kleinwohnung, dieses schlechte Design, dieses österreichische
Anti.
Trotzdem,
da kehrt die Erinnerung zurück, da tut sich das Unbewußte
auf, da steigt das Verdrängte hoch, da stellt sich Freude ein, da
ist ein fahler Geschmack zu spüren, da fehlen einem die Worte, da
macht sich Wehmut breit, da kommt Zorn hoch, da kommt mir ein Lächeln
aus, da tun sich Fragen auf, da bleibt einem die Spucke weg, da sind plötzlich
Stimmen zuhören, da verbinden sich Vorstellungen mit dem Gefühl
während des Sehens und deuten diese Teile als ganze Eigenschaft der
Personen, da ist zweimal Hinschauen notwendig, da stellen sich die Haare
auf, da zeigen sich auf der Stirn Falten, da bricht das neue Weltbild in
sich zusammen, da sagt jedes Bild mehr als tausend Worte, da ist unüberwindlich
innere Distanz fühlbar, da wird im Magen ein Kribbeln laut, da bleibt
die Zeit stehen, da ist es, als ob es heute wär, da ist alles mit
einem Blick zu erkennen.
Aber,
dahinter steckt Haltung, das fühl ich, dahinter findet sich mehr
als Eindruckschinden, das waren noch Revolten, ablesbar an jedem Mundzucken,
jeder Blick eine Herausforderung an die Etablierten, die Anderen, das waren
die Feinde, eindeutig unterscheidbar von uns, WIR, und dennoch, jede eine
Einzelkämpferin, jeder ein Stadtguerilla, der Körper eine Waffe,
der einzige Verbündete, die frei rauschende Insel im besetzten Meer
der Lokale, das Ich eine Festung vor allem, jeder Augenaufschlag eine Beschimpfung,
jede Geste eine Verhöhnung der Ordnung, die Unordnung eine Antwort,
die Hochkultur ein Schas, bewußt hinausgefurzt, der Frust überwunden,
die Geilheit gelebt, jetzt IST alles, kein System, keine festen Bindungen,
die Freiheit liegt im Exzess, die Musik nicht zu sehen, aber spürbare
Begleiterin jedweder Mimik, die Handlungen subversiv wie die Weinflasche,
der Doppler Zurschaustellung der Anarchie, der Rausch Sein, das Sein politische
Ignoranz, alles ist erlaubt, jede Regel gehört gebrochen, die Ausnahme
ist die allerschlimmste, also deshalb Ausnahme sein, jeder Typ ist Original,
kein Doppelgänger ist erlaubt, weil sowieso alle gleich sind, da seh
ich noch Haltung, da fühl ich noch mit, da geht eine Tür auf,
da sind wir drin, die kleinen Arschlöcher wollen rein und die Großen
sind draußen, da war der Joint noch gefährlich und teuer, da
war Besitz noch verrucht, da war pseudo-revolutionäres Getue für
jeden Hinauswurf gut, da seh ich, daß da alles noch ganz anders
lief, das war wohl die letzte Zeit, wo die Kunst noch gefährlich war,
vor allem für jene, die sie glaubten, zu machen, der Absturz Programm,
der Tod eine Wette wert, ein Grinsen für die Zukunft, ein Achselzucken
für die Vergangenheit, ein Vierten für die Gegenwart, die Kunst
schon oder soeben gemacht, der Galerist ein Freund, aber der Markt infam,
die Händler Idioten und Ausbeuter, das wußten die auf den Fotos,
das seh ich, das waren noch Zeiten für Auf- und Widerstände,
da nick ich zustimmend und anerkennend, da springt mir von jedem Foto
eine Attacke entgegen und das Establishment das bin ich, wir heute.
Jedoch,
die hatten sicher kein Geld in der Tasche, die waren eitel auf ihre
Not und bestimmt nur auf sich allein gestellt, die konnten mit 100%iger
Wahrscheinlichkeit keinen bürgerlichen Beruf ergreifen, die liebten,
ob wirs glauben oder nicht, ganz normal, jeder jeden und jede jede und
jeder jede und jede jeden, die zeigten sich, da geh ich jede Wette ein,
nicht nur wenns sein mußte auch von ihrer primitiven Seite, die
verbanden Höflichkeit in IHRER ART mit neuen Anschauungen: den Schocks,
die zogen sich, das steht fest, gern in ihre Gruppe zurück und waren
dort Einzelgänger, die hatten, das merk ich ganz klar, die Nase voll
von den Vätern, die haßten, das hab ich in mir, die alten Werte
und ihre Träger, sie hatten, das ist eindeutig den Gesichtern abzulesen,
keine Chance, kein Durchkommen, die Rädelsführer, das ist Bild
für Bild zu sehen, waren unbestechliche Köpfe, gegen jede Tradition,
die Welt, das ist kein Witz, schrumpfte für sie auf ihre Sicht, die
der Leib prägte, zusammen, die waren, das ist die Wahrheit, nur auf
Wahrheit aus, um auf sie - das ist der Clou - zu scheißen, das hielt
sie zusammen.
Aber
waren es Freunde? Waren es Verbündete? Waren es Außenseiter?
Waren es Gleichgesinnte? Waren es Underdogs? Waren es Haberer? Waren es
Verzweifelte? Waren es Friedfertige? Waren es Stänkerer? Waren es
Kluge? Waren es Primitive? waren es Kalkulierende? Waren es Spontane? Waren
es Aussteiger? Waren es Taschenspieler? Waren es Tiefstapler? Waren es
Dandys? Waren es Ideologen? Waren es Metaphysiker? Waren es Gesellschaftskritiker?
Waren es Säufer? Waren es Blindwütige? Waren es Fixer? Waren
es Nasenbohrer? Waren es Erkenntnistheoretiker? Waren es Musiker? Waren
es Linke? Waren es Junge? Waren es Zeitlose? Waren es Fanatiker? Waren
es Zuhörer? Waren es Agitateure? Waren es Demonstranten? Waren es
Existentialisten? Waren es Kuscher? Waren es Cleane? Waren es Dichter?
Waren es Elitäre? Waren es Kommunarden? Waren es Maler? Waren es Wissende?
Waren es Trotteln? Waren es Weltverbesserer? Waren es Herumhänger?
Waren es Wissenschaftler? Waren es Klassenlose? Waren es Teddyboys? Waren
es Mittellose? Waren es Begüterte? Waren es Vorbereitende? Waren es
Nichtsstuer? Waren es Gruppenficker? Waren es Hinauszitierte? Waren es
Unterdrückte? Waren es Bevorzugte? Waren es Risikofreudige? Waren
es Zeitgeistbedingte? Waren es Eggheads? Waren es Machtlose? Waren es 68er?
Waren es Säue? Waren es die Perlen vor diesen? Waren es Nachtfalter?
Waren es Einraucher? Waren es Bodenständige? Waren es Zugereiste?
Waren es Internationale? Waren es Modische? Waren es Alternative? Waren
es Vorantreibende? Waren es Provokateure? Waren es Blumenkinder? Waren
es Weintrinker? Waren es Biertrinker? Waren es Cola-Rum-Trinker? Waren
es die Besten? Waren es Künstler? Waren es Kulturbescheissende? Waren
es Kulturbeschissene? Waren es Kulturlose? Waren es Kultursucher? Waren
es Sinnstifter? Waren es Sinnlose? Waren es Zeitgemässe? Waren es
Zeitgenossen? Waren es Wiener? etc.?
(So hab ich mich also doch in diese Fotos hineingelesen und bilde mir
ein, ein Bild von denen, die da zu sehen sind, zu haben, und dabei ist
es eines von mir. Weil ich das aber auch weiß, ist es ein
mögliches wahres, weil ein konstruiertes, das ich ohne die vorgegebenen
Formen, Dinge, Typen und Personen nicht zusammenklittern hätte können.
Womit ich sagen will, daß mir mit den Bildern die Begriffe kamen
und erst dann die Erinnerung so etwas wie das Gefühl von Geschichte
erzeugte, die sich und das ist und bleibt der Fluch des Erinnerns - nicht
in der Gegenwart der Bilder und schon gar nicht in der Vergangenheit des
darauf Abgebildeten abspielte - sondern im abgesteckten Raum zwischen den
begrifflichen Feldern. Darin verschwimmen die Formen des Charakteristischen
oder Persönlichen, wenn auch die Begriffe scheinbar Erlebtes hypostasieren,
das hin und wieder klare Konturen von Charakteren oder Persönlichkeiten
zu bilden vermag.)
Ferdinand Schmatz |