HUBERT SOWA
VOM INFuG-GESICHTSPUNKT / FROM AN INFuG POINT OF VIEW

Bemerkungen zur Ereigniskunst / Notes on Performance-Art (II) (ausgehend von den Diskussionen der 3. Performance-Konferenz in Köln, 29/9/96) Der folgende Text ist der zweite und abschließende Teil eines Aufsatzes, dessen erster Teil in "Slaps, Banks, Plots. Die Performance-Konferenz, vol. 2/1997, Köln" erschienen ist. Der Text thematisiert die wesentlichen Fragenkomplexe, die auf der 3. Performance-Konferenz in Köln (29.9.1996) diskutiert wurden. Die Reihenfolge des Auftretens der Fragekomplexe im Gespräch wurde nach Möglichkeit beibehalten, auch ist jeweils in der Überschrift fixiert, von wem der jeweilige Themenbereich in die Diskussion eingebracht wurde. Sodann werden die diesbezüglichen Thesen und Argumente dargestellt bzw. diskutiert (a) und vom Standpunkt des Instituts (INFuG) her zugespitzt (b)

§ 9 Negation von Illusion (Jürgen Fritz) / Präsenz in der Situation (Rolf Langebartels)

a) Die Idee einer "Negation von Illusion" ist eine originäre Leitidee der radikalen p. . Sie bestimmt performative Ereignisse primär gegen den Darstellungsbegriff, der die Form des Theaters beherrscht. Dieses sucht durch die illusionistische - und das heißt vor allem: szenische - Distanzierung von der realen Handlungswelt - der Welt von Liebe und Mord, Handeln und Leiden, Bewegung und Ruhe, Spannung und Gelöstheit usw. - dem Betrachter zu mehr Klarheit, Abständigkeit, Reflexions- und Urteilsfähigkeit gegenüber dieser Wirklichkeit zu verhelfen und ihn dadurch zu "läutern", wie es Aristoteles in seiner Theorie der Tragödie leitbildhaft formuliert hat. Die theatralische Illusion lebt von diesem entscheidenden Doppelsinn: Sie ist scheinbare Wirklichkeitsnähe, Abbildlichkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber gerade Distanz. Wesentliches Instrument der illusionistischen Distanzierung, die letztlich auf Bewältigung der Lebenswelt durch klärendes Verstehen zielt, ist die Rahmung als Szene. Die Szene/Skene, deren prägnanteste Formulierung die bildhaft gerahmte Bühne ist, ist eine relativ geschlossene und daher die Überschaubarkeit und Verstehbarkeit erleichternde konstruktive Form. Sie fokussiert die verwirrende polyperspektivische bzw. polyphone "wirkliche" Handlungswelt in einen Schauplatz, versammelt sie zur Situation (situs = Platz, Ort). Insofern ist es eigentlich die bildhafte Überschaubarkeit, die - bei aller scheinbaren Ähnlichkeit - die "Illusion" von der Wirklichkeit unterscheidet.

Die Idee der Performance setzt hier negierend an, versucht die geschlossene Szene zu ”öffnen und insofern - weitab jeder "Läuterung" und "Klärung" - die ursprüngliche Verworrenheit der Handlungswirklichkeit zurückzugewinnen. Diese ursprüngliche Handlungswirklichkeit hat eine eigentümliche Form der "Präsenz" im Sinne der Distanzlosigkeit: Wenn ich einem fremden Passanten helfe, den Weg durch die für ihn unüberschaubare Stadt zu helfen, schaue ich nicht seinem Herumirren distanziert zu wie einem Schauspiel, sondern ich beteilige mich direkt am Geschehen, "nehme Teil" und handle wirklich. Ich gestalte mit meinem Gegenüber eine gemeinsame Handlung. Handeln dieser Art ist nicht "illusionistisch". Ähnlich wäre das Handeln eines Psychotherapeuten, der teilnehmend und als wirkliches Gegenüber mithandelnd die Verwirrungen seines Patienten zu lösen versucht und ihm hilft, sein Leben zu verändern, ein nicht-illusionistisches, d.h. direktes und wirkliches Handeln. (Wenn er sich dabei theatralischer und szenischer Verfahren bedient, so ist das nur ein Hilfsmittel; worauf es ihm ankommt, ist vielmehr die wirkliche Veränderung.) Wenn wir so etwas eine "Szene" nennen, so meinen wir, daß dieses Handlungsgeschehen dennoch aufgrund der Kürze einen relativ geschlossenen Charakter besitzt - im Unterschied zur Uferlosigkeit des sonstigen Lebens. Wenn ein p.-Künstler sein Publikum mit Fußreflexzonenmassage "behandelt" (Olav Westphalen), so benutzt er nur in sehr beschränktem Sinn die Bildlichkeit einer "Szene", handelt in  Wahrheit aber nicht illusionistisch: Er behandelt sein Gegenüber wirklich.

b) Ob der Charakter der Illusion oder der Szene in der p. wirklich vollständig negiert werden kann, ist fraglich. Wohl gibt es Typen von zeitlich/räumlich relativ unüberschaubaren Ereignissen. Zu ihnen gehören z.B. Netzwerkereignisse, Formen der sozialen oder politischen p., Formen des interventionistischen oder radikal diffusen Handelns. Jedoch würde die Idee der "Negation von Illusion" letztlich auf eine völlige Aufhebung aller szenischen (zeitlich/räumlichen, d.h. "situativen") Einschränkungen hinauslaufen. Der radikale Situationismus hat solche Möglichkeiten vorgeführt und zugleich demonstriert, daß solche Ereignis- und Handlungstypen auf die Grenze des Verschwindens hinauslaufen: Ereignisse von diesem Typus entziehen sich der Aufmerksamkeit, werden ungreifbar, ja fordern das Verstehen nicht einmal heraus, da sie unauffällig bleiben.

In jedem Fall würde die Idee der Negation von Illusionismus auf eine so hochgradige Nähe zur Wirklichkeit hinauslaufen, daß man sie schon als Verschmelzung bezeichnen müßte. In einem Liebesakt kann man - je mehr man sich auf den finalen Bereich hinbewegt - nicht mehr davon sprechen, daß ein Partner dem anderen eine "Darbietung" zeigt. Wohl lebt der Liebesakt in einzelnen Abschnitten seiner Entfaltung von solchen wechselweisen Darbietungen, mit denen sich die Teilnehmer gegenseitig im Vorgriff das quasi-illusionistische Versprechen der vollständigen Erfüllung geben, indem sie die wechselweise "Darbietung" gleichsam als signitiven Akt benutzen, der auf die vollständige Erfüllung aller Versprechen vordeutet - insofern einen illusionistischen Vorgriff der Wirklichkeit des "Aktes" selbst darstellen. Aber schließlich - idealerweise - schlagen all diese Versprechen in wirkliche gemeinsame Erfüllung um. Man wird ein solches Ereignis kaum als "Inszenierung" oder "Szene" bezeichnen können - es sei denn, wir nehmen die Figur des getrennten Zuschauers dazu, dessen beobachtende Teilnahme in der Tat nur die Illusion wirklicher Teilnahme ist. In diesem Fall würde sich sicher auch bei den "Darbietern" des Aktes ein gewisser Anteil von "illusionistischer Darstellung" in ihr Handeln einschleichen, sich gleichsam wie ein zarter Nebel vor das wirkliche Erleben schieben.

Die szenische Schranke, die bei einer Bühnendarbietung die "Darsteller" vom "Publikum" trennt, reduziert sich für die zwei (oder mehr) wirklichen Teilnehmer bei einem vollständig glückenden Liebesakt auf eine verschwindende Membrane. Hier entsteht jenes "rauschhafte" und insofern alles verwirrende Verschmelzungsphänomen, das Nietzsche in seiner Tragödientheorie thematisiert hat: Als eine "dionysische" Ereignisform, in der keine trennende, klärende und das Individuum rettende SKENE (Scheidewand) mehr zwischen die Teilnehmer tritt. Ebensowenig illusionistisch wie der rauschhafte Liebesakt ist für die wirklichen Teilnehmer etwa ein Kriegs- oder Katastrophenerlebnis, ein plötzlicher Konflikt usw... Dennoch: Selbst diese Ereignistypen, die doch von größter Nähe aller Teilnehmer und von einem Eintauchen in die Situation bestimmt sind, sind relativ geschlossen und haben auch Qualitäten einer "Szene": So versinken die Teilnehmer einer dionysischen Orgie (etwa bei Hermann Nitsch) zwar in der gemeinsam erlebten Situation, aber auch dieses Fest hat in der Abgrenzung vom Vorher und Nachher des Alltags sowie in der Abgrenzung von Festgemeinde und Außenwelt noch den Charakter einer Szene. Wirkliches Randproblem der Forderung nach einer "Negation von Illusion" wäre dementgegen das zerfließende Untertauchen in der diffusen Welt des Alltags. Solange die p. "Fest" bleibt, wird sie dies nicht leisten können.

§ 10 Performative Strukturen und Kippzustände (INFuG)

a) Es gibt auch den Versuch, performative Strukturen nicht durch „äußere Eingrenzung (Problem der Szene) zu fassen, sondern von einem inneren Kern her zu begreifen. Die Idee des "Kippzustandes" bzw. der "Kippung" selbst wäre demnach - abseits der Polarisierung zwischen szenischer "Illusion" und "Lebenswirklichkeit" - das Wesen des Performativen. Kippzustände kennen sowohl das theatralische Drama als auch die Lebenswirklichkeit. Kippzustände gibt es andererseits auch im Bereich der Naturereignisse. So beschreibt Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" (B 250) einen spezifischen Typus von Naturereignissen, der etwa bei einem Wechsel von Aggregatszuständen auftritt - etwa in dem Moment, da aus flüssigem Wasser durch das "Anschießen" von Kristallen der Feststoff  Eis entsteht: Ein jähes, zeitlich verdichtetes Ereignis - fast ein Zeitsprung -, dessen zeit-räumliche "Mikrostruktur" nach den klassischen Vorstellungen von "Kontinuität" unbegreiflich erscheint und für den Beobachter die Aura des "Wunders" zeigt. Die moderne Chaostheorie erforscht genau solche "Emergenzstrukturen" und versucht sie methodisch aufzuklären, ohne freilich die Aura des "Unbegreiflichen" ganz tilgen zu können.

Die Thematisierung solcher "Kippzustände" hat in durchaus vergleichbarer Weise auch stets die Theorie des Dramas beschäftigt: In der klassischen Dramentheorie ist der Kippzustand zwischen dem szenisch exponierten Handlungskonflikt und der jähen Überraschenden Lösung gleichsam die Essenz des ganzen Stückes. Indem eine konflikthafte Handlungsstruktur den Punkt der Krisis erreicht, überfällt den Betrachter jäh der Zustand einer Verwirrung, die sich in schmerzhafter oder freudiger Überraschung auflöst: Aus etwas Bisherigem entsteht etwas wirklich Neues - und an dieser Umkippung nimmt der Betrachter fühlend und verstehend teil. Das Drama realisiert sich in diesem Moment im gemeinsamen Bewußtsein aller Teilnehmer.

Auch die politische Theorie - etwa die Theorie der Revolution, des Krieges oder die Theorie der geschichtlichen  Entscheidung - widmet diesen "Umkippungen" ihre Aufmerksamkeit und versucht in ihnen die Essenz von Geschichtlichkeit überhaupt (im Sinne von "Geschehen") greifbar zu machen.

Im Lichte dieser Überlegungen besehen wäre die Form der p. gleichsam die herausdestillierte Essenz des Dramas, seine Reduktion auf den Wesenskern. In den p.'s von Roman Signer wird diese Essenz etwa in unerhörter Prägnanz und Kürze anschaulich gemacht - in einer Konzentration, wie sie das klassische Theater nicht kennt: Eine Spannung baut sich kurz auf und löst sich jäh. Der ganze Vorgang der Umkippung beansprucht nur eine Zeitdauer von wenigen Sekunden.

b) Es liegt auf der Hand, daß viele Fragen nach "Illusion" und "Wirklichkeit" wie nach "Personalität" oder "Objektivität" von performativen Strukturen sich erübrigen, wenn man das Augenmerk auf die Form der Umkippung selbst lenkt. Die Umkippung selbst wäre demnach das einzige entscheidende Definiens einer performativen Struktur. P.-Künstler wären demnach als Spezialisten für die Einleitung und Durchführung von Kippzuständen anzusehen - und der Maßstab des Gelingens wäre allein in die Frage zu setzen, ob es - sei es auf der "Bühne", sei es in den Köpfen des Publikums - zu wirklichen Umkippungen kommt.

Es fällt ins Auge, daß performative Strukturen in der Tat immer wieder solche Umkippungen demonstrieren. Die politischen/ökologischen Aktionen von Joseph Beuys können hier genauso als Beispiele dienen wie Boris Nieslonys legendärer Sprung aus dem Fenster. Die Rolle des "Akteurs" reduziert sich in diesem Lichte gesehen nur auf ein "Antippen", mit dem er vor aller Augen eine  wirkliche Umkippung in Gang setzt - gleichsam als ein "objektives" Ereignis. Die Umkippung selbst aber ist nicht "Handlung", schon gar nicht "Ausdruck" einer Person, sondern wesenhaft Ereignis - in gewissem Sinn überpersönlich, vielleicht sogar übernatürlich. Performative Wirklichkeit hieße demnach: Gemeinschaftliche Teilnahme an Kippzuständen.

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt diverse performative Typen, wie z.B. pädagogische Prozesse (Lernprozesse), sportliche Wettkämpfe, liturgische und magische Handlungen, Witze, Seitensprünge, naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen, Explosionen, Implosionen, Kernspaltungen, Jahreswechsel, Hinrichtungen, Geburtsvorgänge, Initiationen, Festmähler, Gipfelbesteigungen, Grenz- und Paßüberschreitungen, Expeditionen, Theoriebildungsprozesse, Volksabstimmungen, therapeutische Eingriffe, Stripteaseshows, Feuerwerke, Sonnenfinsternisse, Lawinenabgänge, Orgasmen, Fallschirmsprünge, Stierkämpfe, Verbrennungsrituale usw., so fällt ins Auge, welche zentrale Rolle die dort jeweils statfindenden Umkippungen für das Verständnis des Wesens dieser Situationen haben. Die in all diesen Vorgängen sich zeigenden Kippereignisse sind Wirklichkeiten sui generis. Im Blick auf diese Phänomene gewinnen wir einen essentiellen Begriff von dem, was ein performatives Ereignis ist.

§11 Zum Problem nichtpersonaler und nichtexpressiver Ereignisse (INFuG)

a) Im Lichte der im vorangegangenen Abschnitt angestellten Überlegungen scheint die Frage nach der Bedeutung der "Personalität" oder "Expressivität" performativer Ereignisse sekundär. Der Wert, der in vielen p.-Theorien der Ausstrahlung der ausführenden Person in einer p. zugemessen wird, scheint nicht nur auf einer starken Überschätzung zu beruhen, sondern sogar vom eigentlichen Kern des Problems abzulenken. Es ist nicht die seelische Energie oder die Macht einer personalen Haltung, welche die Qualität einer p. ausmacht, sondern die Gewalt des in der p. in Erscheinung tretenden Umkippungsereignisses. Im Prinzip ist die ausführende Person nur der Katalysator des Ereignisses, nicht dessen Zentrum. Es scheint nötig, die Theorie der p. von ihrer expressionistischen Fehlinterpretation zu befreien, wie sie etwa in dem Standardwerk von Elisabeth Jappe (Performance Ritual Prozess. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München/New York 1993) vorherrscht. Der aus der Fluxus-Theorie stammende Begriff des events hat den Vorteil, auf die Objektivität performativer Ereignisse zu verweisen und das Augenmerk von der Person abzuziehen. Im Prinzip sind im Rahmen einer p. die handelnden Personen austauschbar. Eine die eigene Dominanz stets übermäßig in den Vordergrund stellende Gestalt wie Joseph Beuys hat in diesem Zusammenhang beträchtliche Verwirrung gestiftet und Fehlinterpretationen verursacht. Sein Verständnis von p. ist gegenüber dem in der Fluxus-Bewegung erreichten Stand reaktionär und einem dubiosen expressionistischen/nietzscheanischen Personenkult verhaftet. P.-Konzeptionen, die hier anknüpfen, sind im Prinzip obsolet und werden dem nach Fluxus und Happening erreichten Reflexionsniveau nicht gerecht.

b) Die Befreiung der Idee der p. von der Ideologie des "Subjekts" führt zu einer unerhörten Öffnung des Aufmerksamkeitshorizontes und verlangt von allen Beteiligten - "Akteuren" wie teilnehmendem "Publikum" - eine Entgrenzung und neue Fokussierung der Aufmerksamkeit, um den performativen Kern der Ereignisstruktur wahrzunehmen. Die Befreiung von der personenzentrierten Sicht entlastet die Theorie der p. von metaphysischem, obskurantistischem und romantischem Ballast, erhöht zugleich aber den Schwierigkeitsgrad der allen Beteiligten gestellten geistigen Aufgabe: Es geht nicht um Personen, sondern um Ereignisfelder. (Vgl. auch unten,  §16)

§12 Performance als Negation des Bildes (INFuG) vs. Performance als bilderzeugende Handlung (Boris Nieslony)

a) Es gibt eine inzwischen geläufige Definition der p. als eine "bilderzeugende Handlung". Diese Definition hat den Vorzug, die p. nicht personenzentriert zu interpretieren, sondern die ausführenden/teilnehmenden Personen nur als Momente eines insgesamt entstehenden Bildes zu begreifen. Alle Beteiligten werden als Teilnehmer einer gemeinsamen "Wahrnehmungsmodellierung" begriffen, die sich als Bild realisiert/manifestiert. Der Künstler hat nach Maßgabe dieser Theorie den Part zu übernehmen, einen jeweiligen Fokussierungsmodus für die Wahrnehmung des im Ereignisfeld entstehenden Bildes zu definieren und zu steuern. Das Bild, das dabei in aller Augen entsteht, kann entweder präsentes Bild oder medial repräsentiertes Bild oder physisches/psychisches/geistiges Nachbild sein oder alles zusammen. Das von allen Beteiligten gemeinsam realisierte, erblickte und erlebte Bild gewinnt überpersonale Gegenwart. Alle Beteiligten müßten sich als Teile dieses übergeordneten Bildes verstehen (vgl. hierzu meinen Vortrag "Wer ist im Bild?", in: Wolfgang Zacharias, Hrsg.: Interaktiv. Im Labyrinth der Wirklichkeiten, Essen 1996, S. 439 ff.). Sie werden vom Ereignis selbst ins Bild gesetzt, "sind im Bilde". Der hier beanspruchte Begriff des "Bildes" ist neutral gegenüber der Frage, ob das Bild auch "mediales" Bild sein kann. Entscheidend ist vielmehr die offenbare Wirkmacht des Bildes, so wie sie in vielen "Ikonen" der p.-Art Wirklichkeit geworden ist und überzeitliche Präsenz - auch mediale Präsenz - gewonnen hat, um nur an Künstler wie Beuys, Ulay/Abramovicz, Nitsch oder Warpechowski zu erinnern. Auch unter jüngeren Künstlern gibt es einschlägige Beispiele.
b) Diese Theorie der p. ist einer Metaphysik oder Theologie des Bildes verpflichtet, die nicht unbefragt hingenommen werden kann, wenn man die wirkliche ontologische Dimension der radikalen Ereigniskunst ausloten will. Der Begriff des "Bildes" (imago) ist zum einen fundiert in der theologischen Dimension des "Blickes von Angesicht zu Angesicht" (to face), der visio facialis oder visio absoluta, zum anderen der metaphysischen Idee des systematischen "Zusammenstandes" von Elementen in einem "Anblick" von relativer Geschlossenheit (vgl. Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes; in: M.H. Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M. 1977, S. 75 - 114; vgl. weiterhin: Jean-Pierre Vernant, Tod in den Augen, Frankfurt/M. 1988). Schlagartige Überschaubarkeit, Prägnanz und Einprägsamkeit verdichten sich im Bild zu einer energetischen Wirksamkeit, die mit der Idee der Macht einerseits, der des Subjekts andererseits konvergiert. Darin liegt einerseits eine sehr starke Qualität unbestreitbarer Wirklichkeit, andererseits aber wird die in der p. realisierte Essenz energetischer Ereignisse hier zurückgebunden an den Boden einer traditionellen statischen Ontologie, die der reinen Ereignisdynamik nicht mehr gerecht werden kann. Je stärker sich die performative Arbeit von Künstlern darauf konzentriert (und beschränkt), wirkmächtige Bilder zu erzeugen, desto stärker dient sie sich einem Überkommenen statisch geschlossenen Seinsbegriff an, der blind ist gegenüber der neu zu gewinnenden Offenheit spezifischer Ereignisstrukturen. Das "Bewegungsbild" ist ein Grenzfall von Bild, der eigentlich bereits in eine völlig andere Dimension verweist, derzufolge das "Sein" als reine Energie (ENERGEIA), als Diffusion, als Übergang und als offenes Feld zu verstehen ist. So könnte man gegen die Bild-Theorie der p. behaupten: Je stärker eine p. die Idee des Bildes und die Möglichkeit einer bildhaften Repräsentanz negiert, desto weiter stößt sie ins Feld der originären Ereignisse vor. Seit dem Kubismus und seit Duchamps epochalem Nicht-Bild des "Großen Glases" greift der überkommene Bildbegriff der abendländischen Metaphysik am völlig neuen Bild-Wesen der ausgehenden Moderne vorbei. Selbst noch die - auf Duchamps "Glas" bezogene - Frage "Wie sind zwei Bilder ein Bild?" (vgl. Hubert Sowa, Wie sind zwei Bilder ein Bild? Doppelte Aufmerksamkeit und Blickwendung, in: Katalog Alexander Roob, CS - VI. Bildroman, Darmstadt 1998, S. 37 - 49) greift hier noch zu kurz. Es stellt sich die Frage, ob nicht im Rahmen einer Theorie der p. sogar noch die Ontologie des Blickes geopfert werden muß und durch eine völlig andere Ontologie des nicht-mehr-blickenden dynamischen Verstehens zu ersetzen ist (vgl. hierzu H. Sowa, Jenseits des Bildes. Das offene Ereignisfeld als Beschreibungsproblem und als ontologische Herausforderung; in: Susanne de Ponte, Ereignis und Wahrnehmung, Baden-Baden 1996, S. 9 - 26). Die Kategorien "Bild" wie "Blick" hängen an der überkommenen Metaphysik des mehr oder weniger statischen Gegenüberstandes von betrachtendem Subjekt und "objektivem" Ding oder Dinganblick. Eine p. dagegen ähnelt nicht einem bloßen Ding. Sie ist auch nicht nach dem Muster eines bildräumlichen "Zusammenstandes" (Systems) von Dingen und Personen zu begreifen. Sie ist vielmehr ein dynamisches und energetisches Zeit-Raum-Ereignisfeld, das nicht mehr monadisch und perspektivisch fokussierbar ist. Insofern kann die Bild-Ontologie nur eine "uneigentliche" Erschließungsperspektive für die spezifisch performative Dimension bereitstellen.

§13 Performance ohne Publikum (Elisabeth Jappe)

a) Die Frage, ob die p. wesentlich über die Seite der Rezeption/Wahrnehmung oder über die der Darbietung/Aktion begründet ist, kann zwei Antworten provozieren: Einerseits könnte man zu dem Schluß kommen, daß sich erst und nur in einer spezifischen Rezeption das Ereignis der p. konstituiert, andererseits kann man an der Objektivität des Ereignisses festhalten und die Grenzidee einer p. ohne Publikum entwerfen. Aus der neueren Geschichte der p. lassen sich für die letztere These wohl einige Beispiele nennen, wobei freilich zu Überprüfen wäre, ob diese performativen Ereignisse nicht vielleicht doch erst durch ihre mediale Veröffentlichung - und sei es auch nur in Form des Gerüchts - ihre eigentliche Wirksamkeit entfaltet haben. Nimmt man die Grenzidee der p. ohne Publikum jedoch wirklich radikal beim Wort, so nähert man sich der mythischen bzw. religiösen Idee des Opfers. Um ein Beispiel zu zitieren, könnte man die Legende anführen, der vorsokratische Philosoph Heraklit habe sein philosophisches Werk nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt, es stattdessen auf dem Altar der Göttin Artemis in Ephesos niedergelegt und damit geopfert. Ob ein geopferter Text überhaupt als Text fungieren kann, ist allerdings mehr als fraglich. Der Gestus des Verschweigens bezieht sich freilich noch immer - wenn auch in inverser Weise - auf die öffentliche Sprachgemeinschaft der Menschen und - wie man sieht - ist Heraklit durch seine Geste ins Gespräch gekommen und im Gespräch geblieben. Solche Gesten haben expressiven bzw. performativen Charakter: Sie binden sich gleichzeitig an eine Ethik des Leidens, der Verzichts und der Verweigerung. Verschwiegene Ereignisse finden nichtsdestoweniger objektiv statt. Indem sie sich der Praxis des menschlichen Gesprächs entziehen, unterstellen sie sich einer "kosmischen" Ontologie der Welt-Raum-Zeit, in der sie sich irreversibel ereignen. Sie appellieren insofern an einen absoluten und nicht mehr menschlichen Blick, gleichsam an einen Blick der Götter und an deren gerechtes Urteil.

b) Jede Ideologie des Opfers und des Verschweigens schließt beträchtliche Probleme in sich. Indem eine p. aus dem Bereich des menschlichen/gesellschaftlichen Handelns, Sprechens und Verstehens ausgegrenzt wird und - z.B. via medialer Aufzeichnung - einem zukünftigen Gedächtnis der Menschheit überantwortet wird, wird sie mystifiziert und sakralisiert und ihrem natürlichen Raum entrissen. Es scheint pragmatisch und realistisch zu sein, demgegenüber darauf zu bestehen, daß eine p. eine menschliche Handlung ist, die als Mitteilung für andere Menschen definiert ist. Es nüchterner /aristotelisch gefärbter) PRAXIS-Begriff, der sich der quälenden religiösen Ideologie des "einsamen Opfers" entledigt, hat nicht nur den Vorzug, die tatsächlich durchschnittlich stattfindende performative Praxis realistischer zu beschreiben, sondern er befreit den Künstler auch aus der monologischen Sackgasse der neuzeitlichen/modernen Kunstreligion und führt ihn zu einem gesunden und lebensnahen Verständnis von der lebensweltlichen und politischen bzw. geschichtlichen Dimension seines Handelns. Während das solipsistische Ideologem des "einsamen Opfers" das künstlerische Subjekt in einen Sog des Entzugs und der Entwirklichung führt, befreit ihn die Idee der kommunikativen Praxis zur Rückkehr in die Wirklichkeit. Insofern erscheint die Idee der "p. ohne Publikum" als eine Selbsttäuschung, ein bloßes "Gedankending" (Kant), dem keine Realität zukommt - eine leere Idee, die nur zu qu„lenden, vereinsamenden und im Prinzip tötenden Praktiken inspirieren kann. Diese Idee ist ein Gefängnis, aus dem sich ein wirklich offenes Verständnis der p. zu verabschieden hat.

 §14 Mediale Transformation von Ereignissen (P. Pellini)

a) Der Impuls, die mediale Transformation von Ereignissen als eine Verfälschung und Verstellung der spezifischen Ereignisdimension zu begreifen, hat neuerdings zur Forderung eines "Photographierverbotes" für p.'s geführt. Insofern die radikal verstandene Idee der p. die Bild-Ontologie prinzipiell negiert, muß das photographische Bild als Fehlweg begriffen werden und alle technischen Aufzeichnungs-Apparate als "Erlebnisverhinderungsgeräte" (Pellini). Die Benutzung von Bildapparaten im Verlauf der Rezeption von offenen Ereignisfeldern bindet die Aufmerksamkeit der Teilnehmer an die Motivsuche und "Filterung" der Erfahrungen und bleibt in der konventionellen Ästhetik (und Metaphysik) des Bildes befangen. Nicht nur stören solche Apparate durch ihre physische Präsenz das in der p. hergestellte "Bild", sondern sie töten durch den Schein der in ihnen produzierten Aufzeichnungs-Bilder auch das geistige/psychische Nachbild. Der Begriff der "Aufnahme" (Rezeption) wird aufs "bleibende" Bild verengt. Dieses Bild beweist bezüglich des wirklich stattgefundenen Ereignisses nichts - allenfalls beweist es sich selbst. Es könnte lediglich als Hilfsinstrument akzeptiert werden, mit dessen Hilfe sich ein Betrachter später einmal an die Gefühle/Erlebnisse/Wahrnehmungen erinnern kann, die er während einer p. hatte. Aber dieses Hilfsinstrument überblendet zugleich dieses Ereignis und alle seine Nachbilder. Demzufolge wäre zu fragen, ob es überhaupt ein System der "Aufzeichnung" gibt, das der spezifischen Qualität performativer Ereignisse gerecht wird - wie z.B. die mündliche Erzählung oder die Zufalls-Aufzeichnung.

b) In diesen Fragestellungen spiegelt sich eine prinzipiell skeptische Haltung gegenüber jeder Ontologie der "Ständigkeit", ein völlig berechtigtes Mißtrauen gegen das Bild und die Sprache und eine radikal kritische Einstellung gegenüber allen Formen der Repräsentanz von Ereignissen. Insofern führen diese Fragen in der Tat auf den Kern des Problems der p. hin. Andererseits erscheint diese Haltung doch auch zugleich dogmatisch - und sie greift auch zu kurz. Sie insistiert auf einem naiven Begriff von "authentischer Teilnahme/Rezeption", der "Teilnahme" letztlich auf augenblickliche Präsenz zu beschränken sucht. In Wahrheit ist "Teilnahme" jedoch ein sehr komplexes Ereignis sui generis. Sie ist nicht auf raum-zeitliche Präsenz beim oder im punktuellen Ereignis zu reduzieren, sondern beinhaltet auch die ganze Dimension der Erwartung und Erinnerung. Insofern ist es pragmatisch und realistisch, zuzugestehen, daß "Teilnahme" im Prinzip ein nach vorne und hinten unscharf begrenzter zeitlicher Vorgang ist, der nicht mit dem zeitlichen Ende der p. und mit dem Verlassen des Schauplatzes aufhört, sondern sich vielmehr fortsetzt in einem offenen Prozess vielfältiger "Übersetzungsleistungen", in denen das "ursprüngliche" Ereignis weiterlebt und "im Gespräch bleibt". Der Versuch, solche Übersetzungen im Namen sogenannter authentischer Präsenz auszuschließen, ist ein Unding und hängt im Prinzip den positivistischen Ideologien des "physikalischen Ereignisses" und des "psychischen Erlebnisses" an: In Wahrheit sind "Gegenwart" und "Teilnahme" hermeneutische Kategorien, die sich auf einen seinem Wesen nach unabschließbaren Prozeß des Verstehens und erinnernden Sprechens beziehen. Eine kritisch-hermeneutische Theorie der p. müßte diesen Prozeß reflexiv in Rechnung ziehen und sich ihm gegenüber nicht naiv verhalten. D.h.: Sie müßte die Dimension des "Weiterlebens" des Ereignisses als integralen Bestandteil der p. begreifen. Der Photograph, der sich etwa im Rahmen einer p. im Ereignisfeld bewegt und Bilder aufzeichnet, müßte als Teil des Ereignisses begriffen werden. Ebenso das Nachgespräch, das Gerücht, die Anschlusstexte usw... Je präziser eine reflexive performative Arbeit sich dieser Dimension der "Fortdauer" bewußt ist und sie auch thematisiert, desto präziser öffnet sie den Blick auf das, was Ereignisse wirklich sind.

$15 Wahrnehmungsmodellierung durch fokussierte Ereignisse (Boris Nieslony)

a) In einem zugespitzten Verständnis könnte das performative Ereignis auf die Qualität seiner "Wahrgenommenheit" im Augenblick des Stattfindens reduziert werden. Unabhängig von allen Handlungen, Dingen, Raumbezügen usw. und unabhängig von deren inhaltlichen Intentionen wäre eine p. demnach als ein Vorgang der "Wahrnehmungsmodellierung", "Wahrnehmungslenkung", "Wahrnehmungsfokussierung" usw. zu begreifen, als ein Akt der "Manipulation" der Aufmerksamkeit der Zuschauer. Dieses Verständnis der p., das sich etwa auf bestimmte magische oder schamanistische Praktiken (wie sie z.B. Carlos Castaneda im Bezug auf toltekische Magie detailliert schildert) stützen könnte, entspricht in vieler Hinsicht dem, was bei vielen p.'s tatsächlich stattfindet. In der Tat kann etwa durch gezielten Einsatz bestimmter Kunstgriffe bei einer p. die Aufmerksamkeit aller Anwesenden in einer 80 Meter langen Fabrikhalle auf das Rollen einer nur wenige Millimeter großen Glaskugel fokussiert werden (Elvira Santamaria), desgleichen auf eine minimale Geste wie eine Augenbewegung oder ein minimales Geräusch wie das leise Ticken einer Uhr. In solchen Fokussierungsleistungen manifestiert sich eine Kunst der Vorführung, die letztlich in der Macht des Künstlers fundiert ist. Performatives Handeln erweist sich in diesem Licht betrachtet als eine Technik der Wahrnehmungslenkung. Diese Interpretation der p. ist allerdings in hohem Maße einem Kunst- und Künstlerbild verpflichtet, das die vollständige Beherrschung der Ereigniswelt und der psychischen Aufmerksamkeit auf einen letzten metaphysischen Gipfel treiben möchte. Dieses Bild bleibt trotz seiner scheinbaren Radikalität personenzentriert und dingkonzentriert.

b) Im Gegenzug wäre die Frage zu stellen, ob nicht umgekehrt die Kunst der p. in einer maximalen Freisetzung und Öffnung der Wahrnehmungsmöglichkeiten besteht, also in einem Loslassen und Freilassen der Aufmerksamkeit, einer Selbstaufgabe der Macht des Künstlers. Die völlige Beherrschung der Aufmerksamkeit, gar ihre Versammlung auf einen Fokus, gehört noch der Allmachtsphantasie der neuzeitlichen Kunst an, von der sich die Theorie der p. tendenziell verabschieden möchte. Sobald zugestanden wird, daß ein performatives Ereignis nicht einen Fokus, sondern möglicherweise zwei oder mehr Fokuszonen hat, müßte auch zugestanden werden, daß nicht die versammelnde Aufmerksamkeitslenkung, sondern die Aufmerksamkeitsspaltung und - als Grenzfall - die völlige Aufmerksamkeitsdiffusion das Wahrnehmungsäquivalent des offenen Ereignisfeldes sind. Die Vorstellung, eine p. käme irgendwann in der Aufmerksamkeit der Beteiligten "auf den Punkt", wäre demgegenüber ähnlich naiv wir die oben ( 12) diskutierte Vorstellung, es könnte zu einem verdichteten "Bild" des Ereignisses kommen. Um die Idee von der machtvollen Wahrnehmungslenkung zu korrigieren, müßten wir uns dementsprechend auf eine Idee des Machtverzichts und des Freigebens der Aufmerksamkeit verständigen. Um beim vorigen Beispiel zu bleiben: Eine kleine Kugel rollt durch eine riesige Halle - aber gleichzeitig gibt es genau diesen bestimmten Lichteinfall, diesen bestimmten Schmutzfleck auf dem Boden, dieses bestimmte Blitzlicht eines Photographen usw... Die ganzen Phänomenfelder der "Störung", des "Hintergrundes", der "Intervention" usw. widersprechen der Vorstellung, es könnte je zu einer wirklichen Fokussierung der kompletten Wahrnehmung auf ein punktuelles Minimalereignis geben. Möglicherweise liegt in der Gelassenheit gegenüber dieser Unfähigkeit zur Wahrnehmungslenkung der entscheidende Schritt, der zu einem wirklich neuartigen Verstehen performativer Ereignisse hinführt.

16 "Enthierarchisierung" als Grenzidee (INFuG)

a) Diese Überlegungen führen zur Grenzidee der "Enthierarchisierung" der Wahrnehmung. Im Grunde ist diese Idee entworfen durch die Pionierleistung der Malerei Cézannes, der als erster gezielt versucht hat, das Verhältnis von Figur und Grund im europäischen Bild zu enthierarchisieren und "Figur" und "Grund" als gleichwertige Wahrnehmungen zu begreifen. In der entwickelten Form der p. vollendet sich dieser Ansatz zur Vorstellung vom radikal offenen Ereignisfeld, in dem das Verhältnis von Figur und Grund konsequent nivelliert wird (vgl. oben,  12 b). Dazu ist im Vorstehenden schon viel gesagt worden, und es ist auch klar, daß sich von dieser Grenzidee her die Frage nach der "Personenzentriertheit" der p. von selbst erledigt, denn die handelnde Person ist nicht mehr als nur ein Element der erweiterten Situation. In den gegenwärtig praktizierten Formen der p. hat sich ein reiches Instrumentarium entwickelt, diese "Enthierarchisierung" der Wahrnehmung in einem gegebenen Ereignisfeld zu inszenieren. Zugleich ist auch klar, daß die Bereitstellung "enthierarchsierter" Situationen unerhörte Freiheiten und Schwierigkeiten auf Seiten des Betrachters provoziert und zugleich die Frage nach der "authentischen" Wahrnehmung obsolet werden läßt, denn wenn per definitionem alles wahrgenommen werden soll, ist jede Wahrnehmung per definitionem "wahr".

b) Wenn in einer "enthierarchisiert" inszenierten performativen Situation die Unterscheidung zwischen "essentiell" intendierten und als "akzidentell" akzeptierten Elementen hinfällig wird, entfalten auch die "uneigentlichen" Momente der Ereignisse ihre Energien und es entsteht eine Potenzierung von simultanen Wahrnehmungsquanten. "Enthierarchisierung" bedeutet aber auch: Aufhebung des Gefälles zwischen Anfang, Durchführung und Schluß: Das performative Ereignis ist in jedem Augenblick gleich bedeutend, es kennt im eigentlichen Sinn keinen "Fortschritt", keine "Entwicklung". Enthierarchisierung heißt des weiteren: Auch das "Vor" dem Anfang und das "Nach" dem Ende gehört zum Ereignis, ebenso herrscht kein Vorrang der "Darbietung" vor der "Nichtdarbietung", kein Vorrang des "Künstlers" vor dem "Publikum", kein Vorrang des inszenierten Raumbereiches vor dem Außerhalb usw... Paradoxerweise soll aber dennoch das Ereignis als Ereignis Konsistenz und Qualität haben. Um ein Beispiel für diese paradox scheinenden Thesen zu nennen, möchte ich auf die frühen Spiegel-Performances von Dan Graham verweisen, in denen wirklich eine optimale enthierarchisierte Transparenz der ganzen Situation realisiert war.

"Enthierarchisierung" würde des weiteren bedeuten: Eliminierung des Gefälles zwischen "Spannung" und "Lösung". Daß dies scheinbar im Widerspruch zu dem oben ( $10) Gesagten steht, muß hier nicht stören: Denn in der Tat wäre es denkbar, das Verhältnis von "Spannung" und "Lösung" sowie das Verhältnis beider zum dazwischenliegenden Kippzustand enthierarchisiert zu verstehen. "Wahrnehmen" hieße dann: Erwartungsloses Dabeisein beim Ereignis. Auf den Ereignisverlauf selbst bezogen hieße das: Der Vorgang ist in jedem Augenblick "fertig" im Sinne von ready-made, also im Sinne von bereit, er steht also in jedem Augenblick "auf dem Sprung" - wie ein 100-Meter-Läufer, der seine gespannte Startposition ununterbrochen durchhält. In diesem Sinne gäbe es keinen "Verlauf" des performativen Ereignisses in einem finalen Sinn (von.... hin), sondern es entstünde ein energetischer Zustand immer vollendeter Schwebe: Der spirit of the moment weht in jedem Augenblick - "ready made" in jedem Augenblick, um Duchamps zentrale Kategorie einer neuen Kunstontologie zu zitieren. Insofern sind reflektiert konstruierte performative Ereignisse eher als "Reihungen" zu begreifen denn als "Kompositionen". So ist die "Reihung" kurzer gleichwertiger Ereignisse eine bewährte Form der neueren p..

Da es sich bei der Idee der Enthierarchisierung nur um eine Limesidee handeln kann, wird es klar sein, daß im Detail immer wieder hierarchisierte Abläufe auftreten und auch als hierarchisierte wahrzunehmen sind. Insgesamt freilich ist die avancierte p. längst eine Kunstform, deren Konzept von "Ablauf" - um Adorno zu paraphrasieren - "keine Schlüsse mehr zuläßt".

17 Körper und Sprache (Parzifal)

a) Man stelle sich einen Vortrag vor, in dem der Sprecher einen diskursiv-theoretischen Text über p.'s vorträgt. Dabei füllt er vor jedem Satz seinen Mund mit Wasser und spricht so, daß die Luft in sprachgefüllten Blasen durch das Wasser im Mundraum nach außen dringt und mit dem Wasser zusammen aus dem Mund austritt. Das Ende des Satzes und das Ende des jeweiligen Wasservorrats (= ein Schluck) fallen zusammen. Dann folgt ein neuer Schluck und ein neuer Satz. Es entsteht eine vollständige körperliche Verbildlichung dessen, von was der Text spricht - nämlich von der p. selbst. Atem, Feuchtigkeit, Klang rhythmisieren sich zu "Sprachblasen", die von innen her in den Raum außerhalb des Sprechers hinausdringen. Parzifals "Gurgelvortrag" auf der 3. Performance-Konferenz brachte damit ein schlagendes Beispiel dafür zum Vorschein, daß auch der theoretische Diskurs über p. ereignishaft und körperlich stattfinden kann. Der Mangel der "Unverständlichkeit" ist dabei in Kauf zu nehmen.

b) Der vorliegende Text wurde auf dem Boden kniend mit einer Feder auf vierzehn Blätter Papier geschrieben.
Giswil, 5.9.1999
Erschienen in: " Slaps, Banks, Plots ". Die Performance-Konferenz, vol. 3/1999, Köln


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