INFuG/DAS
INSTITUT
Institut für Untersuchungen von
Grenzzuständen ästhetischer Systeme
Hubert Sowa
We learned more from a three-minute record than we ever learned in school...(Bruce
Springsteen)
Vom INFuG-Gesichtspunkt / From an INFuG Point
of view
Bemerkungen zur Ereigniskunst / Notes on Performance-Art
(I)
(ausgehend von den Diskussionen der 3. Performance-Konferenz in Köln,
29/9/96)
Im folgenden werden einige der praktischen/theoretischen
Hauptfragenkomplexe der Konferenz in nicht-systematischer Folge zusammengefaßt,
diskutiert (a) und vom Standpunkt des Instituts (INFuG) her zugespitzt (b). Diese
Hauptfragenkomplexe wurden jeweils eröffnet durch bestimmte Beiträge/Fragen einzelner
Teilnehmer. Wir haben daher die Stichworte einzelnen Namen zugeordnet. Die Reihenfolge des
Auftretens der Fragekomplexe im Gespräch wurde nach Möglichkeit beibehalten. Was bei
dieser topisch-chronologischen Ordnung freilich nicht anschaulich wird, ist die
(performative) Form des Übergehens von Frage zu Frage, von Gesprächs"punkt" zu
Gesprächs"punkt".
§ 1 Performance" als Limesidee von Kunst" überhaupt (Boris
Nieslony)
a) Einerseits ist performance ein in der postmodernen Kultur geradezu
inflationär gebrauchter Begriff, der als Leitbegriff für Autos, HiFi-Anlagen, Mode usw.
verwendet wird und in diesen Zusammenhängen höchsten Gebrauchswert, Energetik,
Effektivität usw. signalisieren soll. Andererseits wird er als strikter Gattungsbegriff
in der Bildenden Kunst benützt, um handlungs-, improvisations- und körperbetonte
Kunstformen abzudecken. In beiden Fällen hat der Begriff einen betont irrationalen und
vitalistischen Anklang und wird von seinen Verfechtern z.T. programmatisch gegen die
theoretische Analyse abgesperrt. Wenn die Performance-Konferenz demgegenüber auf einer
theoretischen/begrifflichen Klärung der Idee der performance besteht, wenn sie dezidiert
die Frage nach einer Theorie der performance aufwirft und auch auf eine methodische und
organisierte Klärung abzielt, weicht sie in dieser Hinsicht vom rein vitalistischen
mainstream" ab. Im Versuch einer Klärung der Idee der p. fällt sofort ins Auge,
daß diese Idee von den meisten Protagonisten der Diskussion vor allem ex negativo
bestimmt wird. Eine quasi-Ideologie der Offenheit" führt dazu, das Territorium der
p. stets gegen andere Formen abzusetzen - den choreographisch gesteuerten Tanz, das text-
und partiturgesteuerte Theater, das Schauspiel" überhaupt usw... Weder auf der
Objekt-Ebene, noch auf der Medien-Ebene, noch auf der Ebene der Struktur soll die p.
bestimmbar sein. Im Grenzwert all dieser Verneinungen springen gnostische Begriffe wie
Offenheit", Haltung", Freiheit", Zwischenbereich", Abgrund",
Spiritualität", Geheimnis" usw... heraus, die zunächst nicht weiter
analysierbar scheinen. So scheint es keine ausdrückliche Theorie der p. geben zu können,
nur eine Art fast ritualisierter Frage-Haltung, die immer wieder die schon erreichten
Formebenen in Frage zieht, um auf Ungreifbareres abzuzielen. In dieser Tendenz der
Negation jeder Formbestimmtheit wird die p. gleichsam zur Chiffre der absoluten Kunst vor
aller Kunstform und markiert einen Abschlußbegriff radikaler Konzeptualität"
(Empfänglichkeit" im Sinne Marcel Duchamps) - zugleich Grenze als auch Schranke
aller bisherigen Kunst.
b) All dies deutet darauf hin, daß p. im starken Sinn verstanden eine
Übergangsform im Ausgang der wesenhaft poietisch/produktiv bestimmten europäischen Kunst
ist. Nur als diese praktische Fundamentalkritik der erschöpften europäischen Kunst hat
sie Bedeutung - in jeder anderen Hinsicht ist sie nur ornamentale Gebärde. Zu
unterscheiden wäre daher p. im starken Sinn von p. im schwachen Sinn. Letztere ist eine
Unterabteilung dekorativer und unterhaltender Bildkünste und kommt hier nicht in
Betracht. Erstere aber ist nur da gegeben, wo es sich um radikale und fundamentale
theoretisch-praktische Ereignisforschung handelt. Uninteressant wäre eine
Performance-Konferenz, die sich nur als plurales Sammelbecken der Artenvielfalt von p.
begriffe. Zu erwarten wäre heute vielmehr eine organisierte Zuspitzung der Fragerichtung,
um die performance-art im eigentlichen Sinn stark zu machen gegen alles andere". In
diesem Zusammenhang muß entschiedener als bisher betont werden, daß p. im starken Sinn
nicht ein Gebiet der Kunst, sondern ein erster Vorschein künftiger (und jenseits der
bisherigen Kunst liegenden) Kunstlosigkeit (A-Kunst im Duchampschen Sinn, Kunst im
Heideggerschen Sinn) ist. Um dies zu realisieren, muß die Analyse der p. entschieden von
der Person des Künstlers (auch noch des Kollektivs) und von der Beschaffenheit des Werkes
weggedreht werden. Die entscheidende Ereignis-Dimension der p. ist im interaktiven Bereich
Künstler/Werk/Publikum angesiedelt. Unter Umständen kommt dabei der Seite der Rezeption
die Schlüsselstellung zu. Die Implikationen dieser Umwendung vom Schaffen" zum
Sehen" sind von großer Tragweite.
§ 2 Frageform/Handlungsform/Denkform (Boris Nieslony)
a) Das fragende Gespräch über p., so wie es die Performance-Konferenz
zu formalisieren versucht, würde dementsprechend entschieden mehr als bloß eine
begleitende" Rolle zum eigentlichen" P.-Geschehen spielen. Die vorwärtsweisende
Perspektive wäre hier, daß gerade (und möglicherweise nur) im Umkreis der p. eine neue
Kultur des Fragens und Besprechens von Ereignissen erwachen könnte. Die
Performance-Konferenz könnte in dieser Hinsicht ein Pionierprojekt eines betont
rezeptiven Kunstverständnisses werden. So wie Bazon Brock schon in den 60er Jahren
gefordert hat, die Kunsthochschulen um neu zu gründende Klassen für Rezeption zu
ergänzen, so könnte die Performance-Kultur der fortgeschrittenen Moderne die Keimzelle
einer neuen Rezeptions-Kunst werden. Das Modell des Ereignisses - nicht das des Bildes
oder des plastischen Gebildes oder des Dramas usw... - ist möglicherweise prädestiniert
dazu, eine neue Form der Rezeption freizugeben. Die Einübung in ein wirklich offenes
Fragen entspricht der passivischen" Handlungsform der heute avanciertesten P.-Kunst.
Möglicherweise ist die P.-Konferenz als Praxisform die wichtigste Frucht der
radikalisierten P.-Kultur. Die Einübung in die Rezeption von Ereignissen, die Einübung
ins Fragen und die Einübung in eine neue experimentelle Denkform wären dann eins.
b) Dies deutet darauf hin, daß Theorie gerade im Umfeld der p. deshalb
einen besonders fruchtbaren Boden hat, weil hier das Leitmodell nicht mehr das
(verschließende) Herstellen, sondern eher die offene Praxis ist. Die Idee der
kontemplativen Offenheit" ist sozusagen das schwache" Gegenmodell gegen das
harte" technizistische Herstellungsmodell der konventionellen Kunst. Der P.-Künstler
macht" nicht Handlungen, sondern er handelt in eine von ihm erblickte Offenheit
hinein. Dieses Erblicken" ist das Reich der reinen Theorie. Insofern kann gesagt
werden, daß die p. die theoretischste aller Künste ist, weil sie per definitionem am
weitesten von der bloßen Herstellungsform entfernt ist, ja ein Äquilibrium von Kunst und
Rezeption" anstrebt. (Vgl. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie,
Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1980, S. 272.) Der interne rezeptive und
d.h. auch theoretische (THEORIA = Sehen, Blicken) Grundzug des performativen Tuns - gerade
auch des kollektiven Tuns, vgl. Black market" - ähnelt dem, was Adorno über die
Kammermusik gesagt hat: Der erste Schritt, Kammermusik richtig zu spielen, ist, zu lernen,
nicht sich aufzuspielen, sondern zurückzutreten... Große Kammermusikspieler, die im
Geheimnis der Gattung sind, neigen dazu, so sehr auf den anderen zu hören, daß sie den
eigenen Part nur markieren. Als Konsequenz ihrer Praxis kündigt das Verstummen .. sich
an, Fluchtpunkt aller Vergeistigung von Musik..." (Ebd. S. 273 f.)
In einem zuspitzenden Sinn gesagt ist p. im starken Sinn von sich her
wesentlich enger mit Theorie (Kontemplation/Wahrnehmung; THEORIA als Sehen")
verbunden als mit Expression/Setzung/Machen usw... Nicht zufällig also bilden sich im
Umkreis dieser neuen Handlungsformen auch neue Theorie- und Frageformen aus, ja sind
gleichsam das Indiz dafür, daß es sich hier um eine wirkliche Überschreitung bisheriger
Kunst handelt - Überschreitung hin in Richtung Vergeistigung und Theoretisierung.
§ 3 Multimedialität und Offenheit (Elisabeth Jappe)
a) Daß p. als Form sich nicht primär an bestimmte Medien bindet, ist
Konsequenz und Indiz dafür, daß ihre eigentliche Intention nicht
technizistisch/künstlerisch ist. Der Materialfetischismus der Herstellungskünste wie der
Körperfetischismus der Darstellungskünste muß der p. wesenhaft fremd sein. Es gibt
grundsätzlich kein prädestiniertes Material und Medium. Sicher wird die p. im radikalen
Sinn eher auf schwache" Medien drängen. Es kann aber sowohl performative Architektur
wie performativen Gesang geben, performative Bücher wie performative Handzeichung,
performative Wissenschaft wie performative Pädagogik usw... Entscheidend ist die von
Werk" und Rezipienten" gemeinsam konstituierte Ereignisform, nicht das Material
selbst in seiner Form/Struktur. Der beständige Medienwechsel" kann Indiz für eine
besonders offene Zugangsform sein.
b) Je mehr Medien zum Einsatz kommen, je breiter die Streuung ist, desto
stärker läßt sich veranschaulichen, daß jedes einzelne Medium nur akzidentell,
beispielsweise" in die performative Struktur hineinspielt, nicht substanziell. Nicht
das Was" ist hierbei wichtig, vielmehr das Wie" und Warum". Die
Verdrängung der Personalität durch Medialität muß keineswegs ein Nachteil sein, kann
sich vielmehr als Vorteil erweisen. Auch die der Multimedialität eigene Zerstreuung der
Betrachteraufmerksamkeit muß keineswegs den Ereignischarakter schwächen, kann ihn
vielmehr sogar stärken.
§ 4 Drama und Offenheit (Elisabeth Jappe)
a) Es scheint so, als liege ein zentraler Unterschied zwischen der
Tradition des Dramas und der der Performance darin, daß in jenem die Maskierung" des
Schauspielers ihn in eine mimetische Handlung zwingt, die sein authentisches Dasein und
Handeln gerade verhindert. Authentische Gesten - z.B. Anspucken, Schlagen, Küssen...
kommen immer nur im Sinne einer starken schauspielerischen Leistung in Zwischenräumen des
eigentlichen Handlungsverlaufs vor. Strukturell ist vom Schauspieler eines Dramas
Zurückhaltung seines Selbsts gefordert, ein möglichst restloses Aufgehen in der für ihn
vorgeschriebenen Rolle. Die Person" im Drama ist ein Gebilde, durch das die Sprache
der Überlieferung, der Text, hindurchtönt (per-sonare) und hindurchspricht. In diesem
Sinn ist der Schauspieler (actor) nicht Autor wirklicher Handlungen/Akte, sondern nur
Person". Durch ihn hindurch realisiert sich die Mimesis von Praxis. Auch wenn das
Drama im ganzen Entscheidungsstruktur hat, entscheidet doch der Schauspieler nichts
wirklich. Insofern ist für ihn - bei aller Freiheit der Interpretation - nichts offen. Er
bewegt sich nur in einem Spielraum, der starr ist. Denn die Handlung, für die und in der
er Person" zu sein hat, ist ehrwürdig und trägt Züge eines Rituals. Er ist
getrieben von dem Willen, diese Handlung möglichst gut zu verkörpern, intensiv"
nachzuerleben, oder distanziert mit ihr zu spielen. In allen Fällen steht diese Handlung
vor seinem Selbst und hindert ihn an Authentizität".
In allem ist hier zu erkennen, wie anders die p. ist. In allem scheint
sie - das will die Ideologie der Offenheit" - das genaue Gegenteil sein. Doch dieses
Anders-Sein, diese Negation des Dramatischen, hat eine eigene Dialektik, und auch die p.
hat ihre Rituale und Verbindlichkeiten, ihre Formen. Auch der Performer berührt
mimetische Handlungsstrukturen. Wie aber ließe sich die Mimesis von Performance von
wirklicher performativer Authentizität sicher unterscheiden? (Vgl. hierzu näher auch das
hervorragende Buch von Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen
Spiels, Frankfurt/M. 1995)
b) Bringen wir die Frage auf den Punkt: Was ist eine wirkliche Handlung?
Was ein wirklicher Akt? Aus dieser Idee - oder ist es ein Ideologem? - der wirklichen
Handlung" zieht der Wille zur p. seine ganze Kraft. Genau hier aber lauert auch die
Falle des Expressionismus: Die expressionistisch" handelnde Person handelt doch
zugleich auch nur mimetisch, indem er nämlich den Typus des Expressiven"
personifiziert, sich die Maske des Expressiven aufsetzt. (Vgl. hierzu auch im Folgenden §
8)
Was aber wären - diesseits aller expressiven Steigerung und diesseits
aller Darstellung wirkliche Handlungen"? Es kann hier verschiedene Typen geben:
politische Handlungen, erotische Handlungen, geistige Handlungen... Nehmen wir etwa das
Beispiel einer Masturbation als Performance (Elke Krystufek). An sich bereits ist
Masturbation im Gegensatz zur wirklichen Begattung mimetisch und daher nicht- wirklich,
wenn sie auch eine starke organisch/psychische Wirklichkeit entfaltet - auch in ihrer
Wirkung auf den Betrachter. Hinzu kommt, daß die öffentliche Masturbation in gewissem
Sinn auch wieder nur die Mimesis eines privaten Aktes ist, ihn gleichsam darstellt".
Unübersehbar haftet ihr der Hauch einer expressiv übersteigerten Geste an. So wird sie
zugleich zur Darstellung eines bestimmten Typus' von expressivem Künstlertum - so
authentisch" sie sich auch gibt. Zudem sind die (biologischen) Kräfte, die hier
durch die Person" der Performerin hindurchwirken, so stark und intensiv, daß von
Offenheit" der Situation nicht mehr gesprochen werden kann. Was sich hier vielmehr
vollzieht, ist das Drama der Gattung/Begattung - und der Akteur ist nicht wirklich
handelnd.
Ist dieser Einwand zu beckmesserisch? Er macht jedenfalls die Aporien
der Frage nach dem wirklichen" Handeln sehr deutlich. Hilfreich wäre hier Duchamps
ready-made-Begriff: Bringt es uns vorwärts, wirkliche" Handlungen als
ready-made-Handlungen zu definieren. Gewiß war es genau das, was Duchamp vorgeschwebt
war: Eine Steigerung der Wirklichkeit des Kunstwerks. Die Beiläufigkeit seiner
ready-mades hat ganz und gar nichts mit Expressionismus zu tun. In dieser Hinsicht ist die
fontaine" eher eine problematische Wahl... Wirkliche Handlungen in einer Situation
sind die, die man hier/jetzt normalerweise machen würde, die daher kaum auffallen. Eine
wirkliche Handlung zu begehen, heißt, die Situation, die hier und jetzt ist, zu
gewärtigen, zu verstehen, und in die sich dadurch öffnende Situation im Modus höchster
Wachheit hinein sinnvoll und wirklich zu handeln - also mit vollem Sinn (offenem Blick)
für die Situation hier und jetzt, gewissermaßen also im Sinn eines geringstmöglichen
Abweichens von der Norm. André Stitt nannte das to develope" und sprach auch vom
Bekenntnis-Charakter der performativen Handlung. Rolf Langebartels sprach von der
Präsenz" einer Person in einer Situation. Liegt hier aber nicht zugleich das Urbild
jedes Dramas? Es scheint, daß hier ein sehr tiefgründiges Problem vorliegt.
§ 5 Der Zugangscode" des Zuschauers (Jürgen Fritz)
a) Ein die performerische Praxis und ihre Rezeption stark betreffendes
Problem ist das des Zugangscodes" der Zuschauer. Die Intention auf Offenheit" -
d.h. auch die sich von allen (oder doch fast allen) Gattungstraditionen lösende
Handlungsform - bringt es mit sich, daß die im starken Sinn performativen Handlungen auf
eine Rezeption treffen, die über keinen Zugangscode" verfügt, d.h. sich auf keinen
durch eine feste Gattungstradition mittradierten Erwartungshorizont beziehen kann. Wenn
z.B . der Zuschauer - wie in einem Stück von Oswald Wiener - im Rahmen einer Performance
wirklich geschlagen wird, wie soll er das rezipieren"? Davonlaufen? Zurückschlagen?
Die Schläge genießen? Still leiden? Während etwa die Tradition des griechisch-antiken
Dramas sehr präzise Rollenzuweisungen für das Publikum hatte, fehlt genau dies in der p.
. Nicht einmal von Zuschauer kann mit Entschiedenheit gesprochen werden. Es gibt
überhaupt keine festgelegte Form des Dabeiseins, der Teilnahme". Wer ist überhaupt
ein Teilnehmer einer p.?
b) Ersetzen wir den etwas technizistischen Begriff des
Zugangscodes" einmal durch den hermeneutischen Begriff des Vorverständnisses".
Jeder handelnde Mensch hat in Situationen, auf die er im Lauf seines Lebens trifft,
jeweils schon ein Vorverständnis der Situation: Er kommt aus anderen - soeben
vorbeigegangenen - Situationen her, hat seine Lebenserfahrungen" usw... Insofern hat
er immer ein Wissen, das ihn in die Situation hinein und durch diese hindurch / über
diese hinweg trägt. Wirkliche" Handlungen qua normale" Handlungen haben
insofern kaum etwas Problematisches. Anders steht es mit Grenzhandlungen, die sehr starken
Entscheidungscharakter tragen - also etwa das, was man geschichtliche Handlungen"
nennt, z.B. eine Kriegserklärung oder eine Verfassungsänderung. Das gleiche gilt für
experimentelle Handlungen im starken Sinn - also etwa die Entdeckung Nordamerikas oder die
erste Pockenimpfung. Im noch stärkeren Sinne problematisch sind Handlungen, die
absurden" Charakter tragen, Handlungen, die im lebensweltlichen Sinn
unverständlich" sind, etwa ein Massenselbstmord, ein Terroranschlag usw... Hier
fehlt der Zugangscode". Das gleiche gilt für sog. Katastrophen", also
vorwiegend Naturereignisse, verursacht von höherer Gewalt", oder Todesfälle.
Mystische Erlebnisse gehören ebenso hierher wie Erscheinungen", unerklärliche
Ereignisse" und unvorhergesehene Erkrankungen" usw... Hier wird das
lebensweltliche Vorverständnis in solchem Maß herausgefordert, daß es oft daran
zerbricht.
Im Vergleich dazu sind performative Ereignisse - bei aller
Unverständlichkeit" - eher die Mimesis von Katastrophen, d.h.: sie sind nur relativ
unverständlich. Die schlimmste Katastrophe", die sich gewöhnlich einstellt, ist,
daß die Zuschauer am Verstand" oder Sinn" der Autors zweifeln. Selbst für
diese Fälle gilt aber: Der Zugangscode" fehlt nicht wirklich. Im großen und ganzen
gehören sie - trotz allem - in die Kategorie Darstellung". Dies sei gegen eine
romantische Überinterpretation gesagt.
In der Tat stellen aber performative Ereignisse den Betrachter" (-
darf er wirklich Betrachter" heißen? -) insofern vor Probleme, als er sich immer
wieder fragen muß, als wie wirklich" er die dargebotenen Handlungen einstufen soll.
Je weniger Darstellung" in der p., desto mehr Probleme mit dem Zugangscode".
Angenommen, ein Betrachter" erhält im Rahmen einer p. vom Akteur" ein Glas
Wasser angeboten und trinkt es aus. Trinkt er es dann wirklich" aus oder stellt er
das Trinken nur dar? Dies ist eine Frage der leibhaften Wirklichkeit", der
Realpräsenz", der wirklichen Teilnahme" - alles Fragen, die uns aus
Zusammenhängen orthodoxer Debatten nicht unbekannt sind... Was aber heißt: ein Glas
Wasser wirklich trinken"? Welche Einstellung" muß die Handlung (oder die
Wahrnehmung einer Handlung) begleiten, damit sie den psychologischen Modus der
Wirklichkeit" erreicht?
Eine während einer wirklich weit vom Prinzip der Darstellung"
entfernte p. konfrontiert den Betrachter nicht nur mit wirklichen" Handlungen und
verwickelt ihn darein, sondern sie wertet durch den hohen Grad ihrer Offenheit auch das
ganze Umfeld für die Wahrnehmung des Betrachters im Wirklichkeitsgrad auf. Während bei
konventionellen Darstellungen - etwa einem Schauspiel auf einer Bühne - die Kulisse
eindeutig als Kulisse einen unwirklicheren Rang einnimmt als die Bühnenhandlung (und
diese wiederum einen unwirklicheren Rang als der Zuschauerraum), kann in einer p. alles
gleich wirklich werden. Gerade wenn der Performer möglichst wenig psychische
Energie" (im expressiven Sinn) in die Situation einbringt, kann er eine große
Konfusion über den Wirklichkeitsrang aller Elemente der Situation erzeugen. So kann etwa
das Stromkabel für einen Scheinwerfer - weil es eben die wirkliche elektrische Energie
transportiert - ein Element in der performativen Struktur sein. Selbst Störgeräusche -
weil sie vom Akteur zugelassen" werden - können performative Energien tragen (siehe
John Cage). Mit dieser unerhörten Vielschichtigkeit radikal offener Situationen haben
herkömmliche Betrachter große Probleme.
§ 6 Rezeption als primäre Realisierungsebene (INFuG)
a) Über die Frage, welche Rolle die Rezeption bei einer p. spielt,
herrscht Uneinigkeit. Einerseits könnte man sagen, daß es p. ohne Publikum gibt. Nicht
nur die ausschließlich fürs Video gemachte p. oder autoperformative Handlungen könnten
dafür ein Beispiel sein, auch objektiv" performative Vorgänge wären zu denken, die
ohne jede personale Beteiligung ablaufen (z.B. eine Sprengung, die ferngesteuert im
Weltall erfolgt). Andererseits wäre einzuwenden, daß p. substanziell eine
kommunikative/interaktive Praxisform ist, die sich wesentlich in der Bipolarität
Akteur" vs. Rezipient" ereignet, und daß selbst da, wo der unmittelbare
Rezipient fehlt, dieser doch als imaginärer Adressat immer mitgedacht sein muß.
Für beide Standpunkte lassen sich Beispiele benennen. Es ist auch
schwer zu unterscheiden, in welchem Standpunkt sich die radikalere Bestimmung des
performativen Prinzips äußert. Nun scheint in der Verlagerung des definierenden Prinzips
der p. auf die Rezeptionsseite eine unzulässige Psychologisierung und Soziologisierung zu
liegen: Ist denn die Kategorie Ereignis" substanziell an das Korrespondenzprinzip vom
Typus Gespräch" bzw. Frage und Antwort" gebunden, wie uns die philosophische
Hermeneutik (Heidegger/Gadamer) suggeriert? Der Vorzug einer solchen Betrachtungsweise
liegt freilich darin, das Definiens für Ereignis" von der Seite des
Produzenten" wegzureißen, es von der Fixierung an die produktive Subjektivität zu
lösen. Das Gelingen" einer p. entscheidet sich eben erst im sehenden Verstehen auf
der Betrachterseite. In diesem Standpunkt deutet sich also eine wesentlich größere
Offenheit an als etwa in den autoerotischen/monologischen/solipsistischen Performances
für ein imaginäres Publikum von Videokameras und Photoapparaten (Schwarzkogler). Würde
man freilich eine mehr physizistische Theorie des Ereignisses" zugrunde legen und
Ereignisse in den Blick fassen, die völlig unabhängig vom interpersonalen und
kommunikativen Geschehen stattfinden (etwa die Expansion des Universums oder den Zerfall
der Brennelemente in Gorleben), so hätte man ebenfalls die Klippe des
Subjektivismus/Expressionismus umschifft. Das wiederum macht die Theorie der p. ohne
Rezeption sehr akzeptabel.
b) Es ist entschieden daran festzuhalten, daß für die Kategorie
Handlung eine geteilte Verantwortung von Akteur" und Adressat" besteht, daß
dabei rein zeitlich gesehen die Vollendung" des Ereignisses auf die Seite des
Rezipienten fällt. Bei ihm baut sich das Nachbild der Situation auf, in seinem
Bewußtsein findet die Transformation/Kippung statt. Im Sinne eines korrespondierenden
Denkens denkt der Akteur seinen Adressaten vom ersten Moment an mit, ohne daß er ein
Beherrscher" von Bewußtseinseffekten im Betrachter sein will. (Ein Zauberer freilich
strebt mitunter die vollständige und einseitig gerichtete Beherrschung des
Rezipientenbewußtseins an - siehe Carlos Castaneda.)
In der Betonung der Seite der Rezeption, etwa gar, wenn der Rezeption
letztendlich das Primat in der Vollendung der performativen Situation zugesprochen wird,
liegt freilich die große Gefahr eines psychologischen Subjektivismus, der keineswegs
harmloser ist als der Subjektivismus des produktiven Prinzips". Das Problem ist
freilich, daß in der gesamten Moderne die Kunst primär vom produktiven Moment her
gedacht wurde, daß demgegenüber die Seite der Rezeptivität praktisch ausgefallen ist.
Dies hat das Denken der Moderne in eine extreme Einseitigkeit gebracht (Picasso!), die
erst seit Duchamp in die Gegenrichtung zu kippen begann. Im Bereich der p.-Art ist dieser
Konflikt besonders augenfällig geworden - viel augenfälliger als in Malerei und
Skulptur. Gerade in der p. wird die Krise einer einseitig produktiven Bestimmung der Kunst
am fruchtbarsten ausgetragen. Während reaktionäre Performer diese Kunstform zur
Stilisierung des Subjekts mißbrauchen - die ganze Garde der Schmerz-, Folter-,
Strapazen-, Gefahr-, Klaumauk-, Psycho-Performance - und damit einen verendenden
Kunstbegriff weiter stützen (dies ist leider nach wie vor der mainstream), gibt es auch
eine gegenläufige Tendenz, die Hoffnung macht.
Je mehr auf Seiten der Akteure" Spannung, Zentrierung und Bedeutung
abgebaut wird, desto mehr bekommt die Seite der Rezeption Gewicht. Vorbildlich ist das im
Fluxus-Event und im Happening schon vor 30 Jahren demonstriert worden (nicht bei Beuys,
sondern eher bei George Brecht und Cage usw..), ehe es - parallel zum Neoexpressionismus
in Malerei und Plastik - zum reaktionären Roll-Back einer sich aufplusternden
Künstler-Subjektivität kam. Im Sinne einer Schwächung des Mythos' von der
Persönlichkeit" des Performers sind daher heute alle Arbeitsformen besonders
vorwärtsweisend, die das Bewußtsein von der tragenden/konstituierenden Rolle der
Rezeption entfalten, die also den kommunikativen/interaktiven Charakter von p.
profilieren.
Daß sich darüber hinaus liegende Formen eines objektiven" und
nichtpersonalen" Ereignis- oder Eventdenkens abzeichnen, bei dem die Frage der
Rezeption keine tragende oder - als Limesidee - überhaupt keine Rolle mehr spielt, steht
auf einem anderen Blatt. Hier stehen wir erst am Anfang eines viel weittragenderen
Problems...
§ 7 Performance als Vereinbarung" (Jürgen Fritz) und
Korrespondenz" (André Stitt)
a) Die analytische Thematisierung der Rezeptionssphäre der p. geht
zunächst immer von der paradigmatischen Dualstruktur Darbietung/Rezeption aus. Während
konventionell diese Dualstruktur als einseitig gerichtet und im Sinne eines Gefälles
hierarchisch geordnet interpretiert wird, wodurch sich die Analyse von p. primär auf die
Darbietung zu konzentrieren hat, muß eine avanciertere Analyse genau diese Prämissen in
Frage ziehen.
Die von einigen Künstlern/Theoretikern (Fritz/Stitt) ins Gespräch
gebrachten Grundbegriffe der Vereinbarung" und Korrespondenz" haben den Vorteil,
das Geschehen von Grund auf nicht-hierarchisch auszulegen. Wohl bleibt bei beiden
Begriffen die Dualität gewahrt, d.h. es werden immer zwei Seiten als gleich konstitutiv
für das Ereignis begriffen, aber die Aktivität" wird nicht von einer Seite her im
Sinne eines asymmetrischen Gefälles gedacht. Beide Seiten - die des Akteurs" und die
des Zuschauers" - nehmen an einer Situation teil und spielen ihren Part". Die
Gegenwart der p. ist geteilte Gegenwart mit zugeteilten Rollen.
Nimmt man diesen Betrachtungsstandpunkt ein, so ist klar, daß das ganze
Ereignis vor allem von den Rändern" her betrachtet werden muß. Diese Ränder"
sind das eigentlich Interessante am Ereignistyp p.. Also: Wie kommt es zur
Vereinbarung", wie zur Korrespondenz"? Der Fall liegt ja in der offenen Form der
p. nicht so einfach wie bei der Teilnahme" an der Kulturform des Theaters. Hier
liegen von alters her die Zuweisungen ganz fest. Der Zuschauer weiß im Prinzip, was
Zuschauen heißt. Im Falle eines Abonnenten in einem Staatstheater stellt sich das
Einzelereignis dar als strikt eingeordnetes Moment in einem über ein ganzes Jahr
ablaufenden Programm. Die Vereinbarung" lautet: Ich habe im Vorhinein bezahlt für n
Aufführungen und ich nehme an allen nacheinander teil. Es bilden sich innerhalb der
Ereignisreihe Bedeutungskorrespondenzen usw... Jedes Stück" ist so genau definiert
als Stück der Kulturform Abonnementtheater".
Gewiß gibt es solche Strukturgesetze der Reihe auch im Bereich von p. -
etwa bei Festivals usw.. Aber interessanter ist das Solitärereignis - also etwa
Pionierleistungen im Bereich der frühen Happenings. Zu studieren daran wäre die Technik
der Einladung, das ganze Exposé" des Events. Wie wählt man sich sein Publikum und
sein Szenario? Wie gibt man Informationen, welche Bilder gibt man vor, welcher Ort und
institutionelle Rahmen wird gewählt? Wie wählen sich Publikum und Akteur wechselweise?
Genau in diesem Bereich wird Vorverständnis konstituiert und konstruiert - letztlich wird
hier das Event selbst vorstrukturiert.
In der Regel verhalten sich Performer in diesem Bereich eher
konventionell, greifen auf bewährte Adressendateien und rahmende Institutionen usw.
zurück. Dadurch wird der Vereinbarungscharakter des ganzen Events verdeckt und bleibt
unthematisch. Dadurch bleibt natürlich auch viel Sprengkraft auf der Strecke. Radikal
experimentelle Ansätze - z.B. Straßenperformance - setzen sich in diesem Punkt ganz
anderen Unwägbarkeiten aus und können dadurch auch höchst wirkungsvolle
Thematisierungen des Problems der Vereinbarung" leisten - vor allem ex negativo, also
durch ihr Scheitern.
b) Vereinbarung" und Korrespondenz" sind zwei so schwierig
analysierbare Strukturmomente, daß sie gerne mystifiziert werden: Man spricht unter
Performern gerne von einer magischen" oder mentalen" Stimmigkeit zwischen Akteur
und Publikum in einer bestimmten Situation, man schreibt diese Stimmigkeit unwägbaren
Ursachen zu, bestimmten vibrations", die eben manchmal da sind, manchmal nicht. Man
schreibt diese Stimmigkeit auch gerne (ein wenig narzistisch) charismatischen Kräften zu.
Man liebt auch bestimmte Orte, die von vorneherein starke psychologische Wirkung auf die
Übereinstimmung" zwischen Aktion und Publikumserwartung ausüben. In diesem Bereich
spielen - leider - Klischees eine sehr große Rolle. Hart gesagt: Das seit Jahren so
beliebte Fabrikhallenflair, das so unausweichlich determinierend in die Struktur von
unzähligen p.'s hineinspielt, muß bei genauerer Betrachtung unter Kitschverdacht
gestellt werden. In affirmativer Weise wird hier eine subkulturelle" und
morbide" Atmosphäre für alle Binnenereignisse konstruiert. Diese Atmosphäre wird
zum stillschweigenden, aber selbstverständlichen" konstitutiven Moment aller
Vereinbarungen". Die Aufgehobenheit in der Szene" und ihrem stillschweigenden
(unkritischen) Einverständnis verhindert vielerorts wirklich bohrenden Fragen nach den
geheimnisvollen Ereignisstrukturen von Vereinbarung" und Korrespondenz".
Eine sich a priori in der Szene" einrichtende Performance-Kunst ist
- bei aller vorgetäuschten Radikalität - tendenziell Salonkunst. Nur wenn die Form der
Vereinbarung wirklich plastisch gehandhabt wird, wenn sie kritisch thematisiert und
ständig transformiert wird, hat Ereigniskunst ihre ursprüngliche Sprengkraft. Erst hier
greift die Kategorie Vereinbarung" als eine Formkategorie wirklich. Hier öffnet sich
ein riesiges Feld, von dem erst Teilbereiche bearbeitet sind.
§ 8 Personalität" und Authentizität" als Grundebenen?
(Elisabeth Jappe)
a) Es gibt derzeit einen mainstream" des Verständnisses von p., in
dem Personalität" und Authentizität" als die spezifische Differenz der
Performancekunst angesehen werden. Die Selbstvorführung einer Person" (Achtung! Vgl.
oben § 4!) im Focus des performativen Feldes wird als conditio sine qua non
eingeschätzt. Besonders bei Formen der p. nach Fluxus und Happening trifft das im Großen
und Ganzen zu.
b) Die Definition der p. als nicht-illusionistische Form der
Authentizität" (Jappe/Fritz) ist insofern berechtigt und stark, als sie die
Kategorien Schein" und Darstellung" ausschließt. Dennoch greift sie zu kurz,
weil sie nicht-personale Ereignisformen überspringt, weil sie übersieht, daß die
höchste Form der Authentizität" möglicherweise gerade die Selbstaufgabe sein
könnte. Der Akteur, der sich zum Instrument und zum Medium des Ereignisses macht, ist ein
Nicht-Fokus. Der Regenmacher, der Sterndeuter, der Höhlenführer, der Sprengmeister etc.
stellen nicht die eigene Authentizität" aus, sondern zeigen gleichsam von sich weg
auf Ereignisse und Anblicke, die nicht sie selbst sind. Ihr Zeigen, Bewirken, Vorführen
usw. ist nicht personal" und dennoch bzw. gerade deswegen performativ in einem
besonderen Sinn. Möglicherweise hat der Weg der Ereigniskünste heute primär einen
nicht-personalen Weg einzuschlagen.
Bamberg, den 30. 3. 1997
Ende des ersten Teils.
(Der zweite Teil erscheint in der nächsten Folge der Slaps - Banks -
Plots". Er hat folgende Paragraphen:
§ 9 Negation von Illusion (Jürgen Fritz) und Präsenz in der Situation (Rolf
Langebartels). § 10 Performative Strukturen und Kippzustände (INFuG). § 11 Zum Problem
nichtpersonaler und nichtexpressiver Ereignisse (INFuG). § 12 Performance als Negation
des Bildes (INFuG) vs. Performance als bilderzeugende Handlung (Boris Nieslony). § 13
Performance ohne Publikum (Elisabeth Jappe). § 14 Mediale Transformation von Ereignissen
(Pietro Pellini). § 15 Wahrnehmungsmodellierung durch focussierte Ereignisse (Boris
Nieslony). § 16 Enthierarchisierung" als Grenzidee (INFuG).) |