FRIDOLIN KLEUDERLEIN
Institut für Untersuchungen von Grenzzuständen ästhetischer Systeme, Bamberg
 

B-Kunst

Lieber Boris,

heute erfuhr ich von Deinem Angebot für die Tournee im Oktober. ich danke Dir herzlich. Diese Aussicht ist großartig. Seit kurz vor Weihnachten habe ich den Text im Computer, hatte aber bis gestern noch eine Reihe von wichtigen Arbeiten abzuschließen. Jetzt also hier der und

nochmals vielen Dank. In der Hoffnung, daß es Dir gut geht.

Für Boris Nieslony und European ASA als Dank für die anregende Köln-Konferenz

0. Der sich auf die Antike berufende und zu Beginn der Neuzeit immer stärker werdende Anthropozentrismus hat die Menschen und die Erde an den Rand der Existenzfähigkeit geführt. Möglicherweise setzt in Zukunft eine Überlebensmöglichkeit die noch nie gekannte Zurücknahme all der Verhaltensweisen voraus, die seit der Renaissance besondere Nobilitierung erfuhren. Die Umwandlung, Okkupation und Ausbeutung der Erde muß möglicherweise völlig aufgegeben werden. An die Stelle eines zielgerichteten und funktional ausgerichteten Aktionismus könnte oder sollte bald die Haltung einer strengen Bescheidung und Behinderung menschlicher Eingriffe in die komplexen offenen kosmotopologischen Systeme treten.

Deshalb ist die künstlerische Praxis vielleicht besonders geeignet, Situationen zu erkennen und solche Verhaltensweisen einzuüben, die die drängenden, intentional-stürmischen Gesten vermeiden, um Zug für Zug zur Ruhe zu kommen. Diese Askese kann dann die Voraussetzung dafür werden, daß sich die Blick von ständig zu verwirklichenden eigenen Wünschen und Begierden umbiegt zu einer eher leidenschaftslosen Erkenntnis dessen, was um uns herum ist und geschieht, wenn die Menschen sich zumindest teilweise der Einmischung enthalten. Die Geste ist in künstlerischem Zusammenhang bekannt in der radikalen Form des ready made" und der ready maid" Marcel Duchamps. Im Sinne meiner Argumentation steht Duchamp für eine Kunstpraxis, die wenig handelnd vor allem annimmt, was schon immer ist, Picasso aber - bei aller Verehrung - ist die Figur, die die Praxis der maximalen Produktion ins Unerhörte steigert. Somit ist er, Picasso, der Endpunkt einer Haltung, die im direktesten Sinne des Worte die Welt füllt, voll macht und damit zuschüttet. Duchamp wird jedoch zum Protagonisten einer Art künstlerischer Zurückhaltung, die Schulen bildend der Gesellschaft vorzeigt, wie existenzbezogen und/oder auch künstlerisch in Zukunft gehandelt werden muß. In der Tradition eines Werkbegriffes vor Duchamp verlangt das Werk oder künstlerische Aktion einen hohen Grad von Abhebung von der Lebenswirklichkeit und in seiner eigenen Struktur zeigt es meist zwischen den einzelnen Werkmotiven eine ebenso hohe Graduation an Hierarchisierung durch Komposition. Komposition bedeutet immer die Trennnung von Hauptsache und Peripherie und setzt jeweils einen Menschen voraus, der klare und endgültige Wertsysteme hat und danach handelt. Solche Arten der Hierarchisierung erwiesen sich als verderblich und sind in Bezug auf modellhafte Werke zu vermeiden.

Für unsere künstlerische Arbeit im INSTITUT ergeben sich daraus eine Reihe von Folgen. Was die Performancearbeit betrifft folgt aus dem Gesagten notwendigerweise, daß jede Art von innovativer oder expressiver Geste zu vermeiden ist. Die eine ist vom Schein geprägte Verstellung, die andere Auswurf von Spannungen und somitt egozentrisch. In Übungen allmählich Prozesse zuzulassen, in welchen das sichtbar wird, was bereits da ist, bedarf es einer möglichst geringen Abhebung der Vorführung von der realen Situation, gleichzeitig muß aber das völlige Übergegen von Werk und Wirklichkeit vermieden werden, da sonst die Gefahr besteht, daß der Vorgang nicht mehr wahrnehmbar ist. Hier muß also sehr vorsichtig ein Figur-Grund-Problem erforscht werden. Dazu aber kommt die Frage nach der Wertigkeit der Handlungen. Ziel unserer Arbeit ist es zur Zeit, raumzeitlich-plastische Strukturen zuzulassen, die dem Betrachter erschweren oder gar unmöglich machen, zu erkennen, was jetzt und jetzt und jetzt mehr Bedeutung hat als das, was gleichzeitig daneben und darüber und darunter geschieht.

In diesem Kontext ist auch die hier in Köln gezeigte Übung zu sehen.

1. In den Gesprächsbeiträgen (Stitt) wie auch in der Performance von Parzival (im Gurgelvortrag) zeigte sich in Köln eine ausgeprägte Tendenz zur expressiven Steigerung der raum-zeitlich-sprachlichen Mittel. Insofern stimmt diese Performancesprache stark mit den von Elisabeth Jappe in ihrem Buch erwähnten thematischen und inhaltlichen Tendenzen überein. Deutlich wird darin eine Tradition der anthropozentrisch orientierten Weltsicht. Der Performer erscheint als Zauberer oder als ein überschwenglich sich Verausgabender, der psychische Verfasstheit nach außen stülpt oder durch seine gestalterischen Mittel extreme psychische Reaktionen bei sich und bei den Betrachtern hervorruft. Diese Tradition ist selbstverständlich in ihrer therapeutisch-entladenden Wirkung ernst zu nehmen, hat aber in der Beantwortung der Frage eines eröffnend-klärenden Werkdurchbruchs im Sinne eines beruhigten Blicks" auf die Situation" keine weiterführende Antwort zu geben. Gemeint ist dabei eine qualitativ andere Wahrnehmung, die nicht so sehr danach fragt, was das Individuum fühlt und denkt das, sondern die das Ziel auf eine Aufmerksamkeitsverschiebung (Krümmung, Biegung) lenkt, in deren Folge der ausgeprägte Darstellungszwang der Akteure - situationsbezogen meist eine geste der Okkupation allmählich zur Ruhe kommt und sodann eher wie eine Art Schale empfängt, was ihm die Fülle der Situation" zukommen läßt. Möglicherweise liegt zumindest eine den gewöhnlichen Rahmen von Performance und künstlerischer Praxis allgemein erweiternden performativen Strukturen dort, wo sich die Künstlerpersönlichkeit in ihrer subjektiv-betonten Entäußerung zurückhält, um den Blick verstärkt auf das zu lenken, was im Moment des Aufführungsereignisses geschieht.

2. Viele der in Elisabeth Jappes erwähnten Performances zielen in ihrer inhaltlich-formalen Struktur, auch wie viele traditionelle Tafelbilder auf starke Bilder". Gemeint ist dabei, daß sich die Folgen in einem einzigen wichtigen Bild zusammenfassen lassen, daß sie also so etwas besitzen wie kompositorische Gliederung. Ich denke in diesem Zusammenhang vor allem die lange Diskussion um die Möglichkeiten der Abbildung" einer Performance. Im einzig-wichtigen Bild zeigt sich eine ausgeprägt hierarchisierende Struktur. Innerhalb solcher Rangordnungen wird zwangsläufig den einzelnen Augenblicken ein bestimmter, gestufter Wert zuerkannt. Eine solche Leseart einer Performance entspricht weitgehend der Rezeption eines traditionellen Tafelbildes, innerhalb dessen unwichtige von wichtigen Teilen oder Motiven getrennt werden. Könnte es nicht Aufgabe von neuerer Performancetätigkeit sein, die elementaren Geschehnisse performativer Strukturen in räumlichen Zusammenhängen erlebbar zu machen? Es gibt ja in dieser Richtung schon viele Beispiele. So müßte in Erscheinung treten ... es ist gerade...", Da...", jetzt ist...". So gesehen würde das vorführende Subjekt zu einer Art zurückhaltendem Spiegel dessen, was um ihn herum und durch ihn passiert. Jeder Augenblick wäre gleich bedeutsam. Jede Handlung erführe ihren Sinn nicht aus der seelischen Gestimmtheit des Performers, sondern ewiese sich als das, was sie selbst im Moment ihrer sinnenhaften und sinnhaften Erfahrbarkeit wäre. Sie wäre nur dieses Geschehen ohne jeglichen Verweischarakter, sie wäre so in intensiver Form reine Präsenz. So träte demnach in Erscheinung, was im Augenblick wirklich ist. Da sind Menschen. Die Menschen handeln. Es geschieht in einem raumzeitlichen Nacheinander und zeitgleich. Alle Handlungen sind! Kein Ziel ist auszumachen. Alle Handlungen sind genau geplant und zugleich offen situationsbedingt. Keine Teile von Handlungen sind vorrangig!

3. Wenn ich mich mit Freude an das abendliche Kozert in Köln erinnere, das der Berliner Aktions- und Medienkünstler Langebartels konzipierte, so wird sofort klar, daß auch dort im Umgang mit der Situation die beiden grundsätzlichen, oben skizzierten Haltungen zu Tage traten. Eine ganze Reihe von Beteiligten übte wache Zurückhaltung, ohne gänzlich untätig zu sein, jedoch um im geeigneten Moment vorsichtig handelnd zu antworten. Eine andere Gruppe stach dadurch hervor, daß sie bestrebt war, starke Bilder zu erzeugen. Jeder, der dabei war, hat wahrgenommen, daß dadurch sowohl der Bau der Situation wie auch viele andere Interventionen überdeckt wurden. Diese Haltung entspricht in unserem Argumentationszusammenhang der Geste Picassos. Davon muß sich die situationistische Arbeit allmählich weg bewegen.

Fredolin Kleuderlein, 29.1.97


http://www.asa.de
Das Copyright für ASA-Beiträge liegt uneingeschränkt beim ASA-Köln
Das Copyright für Beiträge von anderen Quellen liegt bei dem jeweiligen Autor