OHNE STROM

Freitag, 23. Oktober 1998

Es ist 17.55 Uhr. In den weißgetünchten Räumen des NBK (Neuer Berliner Kunstverein) haben sich einige Leute versammelt. Das dürften die Künstler sein. Sie sitzen an Tischen, die vor der Bar aufgestellt sind. Einige stehen in Grüppchen zusammen. Alle unterhalten sich. In einem kleinen Wandregal liegen allerhand Kataloge, in denen man prima etwas über die teilnehmenden Performance-Künstler nachlesen kann. BBB J. Deimling meint, daß wir noch ein bißchen warten wollen, bis mehr Zuschauer gekommen sind. Also warten wir bis 19.10 Uhr. Dann beginnt “Ohne Strom”:
Johan sagt, er freue sich, daß so viele gekommen sind und sich so viele auch schon kennen. Und weiter: Johan Lorbeer und BBB J. Deimling haben eingeladen. Leider hat das Festival ein mageres Budget, vielleicht ist die Erstattung der Bahnfahrtkosten drin, mehr aber nicht. Ein bißchen Geld kam vom Kulturamt des Berliner Stadtbezirkes Mitte und von der Ritter-Kulturstiftung.
"Ohne Strom" ?, fragt Johannes rhetorisch. Er, berichtet er, habe vor zwei Jahren ein Festival organisiert, auf dem die Mehrzahl der Performer mit Video, Videobeam, Tonanlagen, Musikkassetten und Recordern arbeiteten. So entstand die Idee  zu diesem Festival:
Also eine ganze Reihe Performance und keine Videoaufzeichnung, kein filmen, kein fotografieren. Und eben auch kein Strom für die Durchführung der Performance. Das hat auch den Vorteil, daß niemand Kabel etc. zu besorgen hatte, damit wäre die ganze Sache auch praktischer.
Dann noch der Hinweis, daß die weißen Räume auch wieder weiß übergebene werden müssen. Immerhin wurden sie von der NBK kostenlos zur Verfügung gestellt. Und: Rauchen ist hier nicht erlaubt.
Johannes zum Schluß: “Damit ist das Festival Ohne Strom” eröffnet.
Eine kurze Pause.
Drei Minuten vor Start der ersten Performance wird sie angekündigt. Alle im Raum verstummen, es dürften insgesamt rund 30 Leute sein. Die meisten von ihnen stellen sich in einem Halbkreis auf.

EINS:

Ingolf Keiner (Berlin) steht mitten im Raum. Und er beginnt seine Performance. Beugt die Knie, hebt die Arme, ballt die Hände zu Fäusten. Die eine Hand wandert auf den Rücken. Eine auf den Kopf, er dreht sie langsam hin und her.
Mit einer Singsangstimme gibt Ingolf Keiner langgedehnte Wörter von sich: “D-i-e    m-e-i-s-t-e-n  M-e-n-s-c-h-e-n  v-e-r-l-a-s-s-e-n  i-h-r-e-n    K-ö-r-p-e-r  w-e-n-n  s-i-e  s-t-e-r-b-e-n  a-n    e-i-n-e-m  P-u-n-k-t  a-u-f  d-e-r  H-ö-h-e  d-e-s    S-t-e-i-ß-b-e-i-n-s”
Er sagt diesen Satz bewegungslos, die Knie sind leicht eingeknickt. Nach dem Satz nimmt er seine beiden zu Fäusten geballten Hände in Höhe des Kopfes zusammen und geht in eine Ecke des Raumes. Dort ist kurz vor dem Boden eine Steckdosenreihe angebracht. Hier kniet Keiner nieder und hält sein rechtes Ohr an einer Steckdose. Er hockt sich hin und preßt seine Stirn an die Steckdosenreihe. Wechselt wieder Position und hält jetzt sein linkes Ohr an eine Steckdose. Er verharrt einen Moment, vielleicht 30 Sekunden, und geht dann einige Meter zur nächsten Steckdose, ungefähr in der Mitte des Raumes, an der Fensterfront gelegen. Dort gibt es drei Steckdosen, ungefähr 40 Zentimeter vom Boden aus angebracht. Auf diesen drei Steckdosen “setzt” sich Keiner, die Arme auf den Knien aufgestützt. Einen Moment später hockt er sich davor nieder, wie ein Frosch hockt er da. Nur ein paar Meter weiter schon länger ein Zuschauer in genau der gleichen Position.
Ingolf  Keiner stützt dann seine Arme auf dem Boden auf, verdreht die Arme etwas dabei und richtet sich wenig später auf. Den Rücken wieder gerade, hat er einen ängstlich (oder mißmutigen?) Gesichtsausdruck. Er bückt sich, seine Fingerspitzen, leicht gespreizt, berühren den Boden. Er hebt den Kopf nach oben, dreht ihn zur Seite, wieder nach vorn in Richtung Publikum. Er blickt gleichgültig. Steht auf, zur anderen Seite des Raumes, verdrängt dort stehende Zuschauer. An der Wand sind mehrere Steckdosen scheinbar unmotiviert angebracht. Es dürften zwanzig Stück oder mehr sein. Ich habe sie nicht gezählt. Über den Steckdosen ist ein kleiner Text auf weißem Papier gerahmt. “Ich dusche gerade, und fragen sie nicht, wie es aussieht, wenn ich bade.”, ist dort zu lesen.
Keiner nimmt die Steckdosen-Anordnungen mit seinem Körper auf. Er stellt sich so in Position, wie es die Steckdosen vorgeben. Dann dreht er sich mit dem Gesicht zur Wand, lehnt mit gekreuzten Armen, auf dem rechten Arm ruht der Kopf, an der Wand. Zwei Minuten vergehen. Dann stützt er die Arme in die Hüften. Wie taumelnd vollführt er sachte Bewegungen, kratzt sich auch mal am Nacken und an dieser Stelle bleibt die Hand. Es sieht aus, als ob er sich selbst wiegt. Dabei sinkt der Kopf und mit ihm der Oberkörper immer mehr in Richtung Boden.
Dann aber wandern die Arme wieder in die Höhe. In den Achseln werden sie geparkt, als ob er sie abstützen müßte. Seine Augen sind dabei geschlossen. Und wieder neigt sich sein Kopf zur Seite, er beugt den Oberkörper, erschlafft zusehends. Öffnet wieder seine Augen, blickt wie weinend, stützt beide Hände auf die Knie und schaut sich suchend am Boden um. Der Kopf wandert dabei von rechts nach links und immer so weiter. Der Gesichtsausdruck wechselt ständig und so schnell, so schnell kann man nicht mitschreiben. Dabei beugt er sich immer weiter Richtung Boden, kommt dann  aber wieder hoch und nimmt seine Arme hinten auf den Rücken. Er bewegt den Kopf so, als wolle er seinen Hals dehnen.
Von draußen sehen Passanten, die die Chauseestraße entlanglaufen, hinein.
Irgend etwas macht er mit seinen Armen hinterm Rücken. Nur was? Niemand traut sich, um Keiner herumzugehen und nachzuschauen.
Dann beugt er sich wieder, verschränkt die Arme hinterm Kopf, nimmt seinen Kopf ganz nach unten, hält ihn zwischen den Knien. Kommt wieder hoch, stemmt einen Arm an die nahe Wand, nimmt den anderen in die Hüfte, seine Beine sind gegrätscht. Dann sind beide Hände an der Wand, der Kopf an einer Steckdose gelehnt, schmiegt er seinen Körper dicht an die Wand. Er lauscht an einer Steckdose, “hält” sich an den anderen fest. Dreht sich langsam um, bückt sich, wie suchend blickt er umher und setzt sich, blickt jetzt wie gelangweilt. Die Beine von sich gestreckt, sitzt er da, der Rücken gerade, der Blick wie angewidert. Er zieht seine Beine an den Körper heran, rutscht ein Stück nach vorn, noch ein Stück, und macht dazu die Beine wieder lang. Er rutscht voran. Starrer Blick. Er geht dazu über, auf seinen Füßen und seinen Händen vorwärts zu kommen, zu gehen. So formt er mit seinem Körper immer mehr eine Brücke, sich dabei umschauend und wieder sehr gedehnt und mit der Singsangstimme vom Anfang zu sprechen: “V-o-n  a-u-ß-e-n    s-t-r-ö-m-t  d-a-s-s-e-l-b-e  d-u-r-c-h  d-i-e    F-u-ß-s-o-h-l-e-n  e-i-n  w-i-e  v-o-n i-n-n-e-n   g-e-g-e-n   d-i-e  S-t-i-r-n.”
Danach bricht, fällt er zusammen, sitzt einfach nur da auf dem Boden, kratzt sich am Hinterkopf, steht auf und sagt “Vielen Dank”.

Beifall und Pause.
Einige stürmen den Tresen. Viele reden. Es werden Aufkleber verteilt. Selbstgemalte und selbst hergestellt. Sie sehen wie Straßenverkehrsschilder auf, die etwas verbieten. “Fotografieren verboten” ist auf den Aufklebern zu lesen.

ZWEI:

Zwei Stühle stehen auf hellblauen Schaumstoffstücken im Raum. Am hinteren Stuhl liegen verschiedene Utensilien. Vorne steht nur der Stuhl. Ein Kreiskreis wurde gezogen, etwa fünf Meter im Durchmesser, beide Stühle einschließend. Als erster steht Andreas Klauke (München) am vorderen Stuhl und liest etwas vor. Es ist sind die Eckdaten eines Lebenslaufes, wie man nach wenigen Sekunden mitbekommt. “Name, Geburtsdatum, Geburtsort ... Eltern, Grundschule, Hauptschule, Abschluß der Hauptschule, Realschule, Abschluß der Realschule, Gymnasium, Abschluß des Gymnasiums, Berufsausbildung, Abschluß der Berufsausbildung, Hochschule, Abschluß der Hochschule, berufliche Erfahrungen, Fortbildung, Neigungen, ehrenamtliche Tätigkeiten.” Andreas Klauke geht nach hinten zum zweiten Stuhl, folgt der weißen Kreidelinie, die er, vom Publikum aus gesehen, rechts entlang geht. Auf dem hinteren Stuhl saß so lange regungslos Florian Gass (München), der jetzt, als Andreas Klauke den Stuhl erreicht, aufsteht und nach vorne zum Stuhl geht. Er folgt dabei dem Kreidekreis, auf der entgegengesetzten Seite allerdings. Er stellt sich neben dem vorderen Stuhl und liest aus einer Zeitung vor. Es müssen Abfahrtszeiten für die Müllabfuhr aus irgendeiner Lokalzeitung sein. Es sind zu viele, er liest zu schnell, um alle mitschreiben zu können. Er liest noch, als von hinten ein klingel-artiges Geräusch erklingt. Ein Zeichen für den Wechsel. Florian Gass hört auf zu lesen. Geht nach hinten, wieder an der Linie, dem rechten Part, entlang. Dafür geht Andreas Klauke wieder nach vor. Stellt sich hin und beginnt zu lesen: “Montag, 2. Oktober, Meisterklasse ... Freitag, 6. Oktober, ...” – wieder erklingt das Klingelzeichen, das nicht wirklich “klingelt”, sondern eher so ein “Kling’, Kling’” erzeugt. (Wie beschreibt man Geräusche?)
Beide wechseln die Plätze wie schon beschrieben. Der, der den hinteren Stuhl erreicht, setzt sich jedesmal hin. Der andere, jetzt wieder Florian Gass, steht und liest jetzt Vokabeln aus einem Fremdwörterbuch vor. Ich rate, daß es Italienisch sein müßte. Später erfrage ich es. Stimmt. Und wieder “kling´ kling´" und Wechsel. Andreas Klauke hat eine Tragetasche (war sie aus Plaste, aus Papier – ich weiß es nicht mehr, habe es auch nicht aufgeschrieben – manchmal geht alles zu schnell!) dabei, holt einen Kassenzettel hervor und liest ab: “Käse 2,83; Fisch 2,61, Petersilie 0,99 ...” Und wieder das Geräusch von hinten, Wechsel, Florian Gass kommt nach vorn, hält einen kleinen Taschenkalender in der Hand, blättert dessen Seiten um und liest vor: “Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonn –” - Sieben mal schafft er es, die Tagesfolge aufzusagen, dann ist wieder Wechsel. Wie gehabt, erwartet man zumindest. Aber plötzlich scheint unklar zu sein, daß der nach hinten wechselnde der Kreisspur rechts zu folgen hat, der nach vorn kommende dem weißen Strich auf der linken Seite zu folgen hat. Verwirrung für einen Moment, dann ist wieder alles klar, beide gehen die gewohnten Wege.
Andreas Klauke liest jetzt Vornamen vor. “... Sandra, Ralf ... Achmed (es geht so schnell), Franz, Paul ... August ...” Und “kling’, kling’”, Wechsel. Aber dieses mal gibt es wieder Schwierigkeiten, denn Andreas Klauke sucht den Weg, findet ihn nicht, hält im Gehen inne, geht hin und her, setzt sich mal zwischendurch und kriecht dann den halben Kreis entlang zurück nach hinten. Florian Gass sagt die Namen von vielen Marken auf. Wieder das Geräusch, wieder Wechsel, Dieses mal liest Andreas Klauke die Namen von Kräutern und Gräser und deren Blütezeiten vor. “Knaulgras Mai/Juni, Kammgras Juni/Juli, ... Holunder Mai/-” und Schluß. Wechsel. Dieses mal ganz anders. Beim Zurückgehen wird Andreas Klauke von Florian Gass gestört, er steht ihm sozusagen im Weg. Kleine Ausweichmanöver, schließlich kommen sie doch aneinander vorbei. Florian Gass  trägt Namen von Autoren und die Titel ihrer bekanntesten Werke vor. “... Der Fänger im Roggen, Salinger, Die Verwandlung, Kafka, Grimms Hausmärchen ...” Wiedererwarten klappt der Wechsel. Andreas Klauke hält die Gelben Seiten in der Hand, liest etwas vor, das sich auch wiederholt: “Bauausführungen, Baubeschläge, Bauelemente, Bau ..., Blumen, Buchdruckerei ... Automobile, Automobile, Automobile ...” Nach dem Geräusch-Zeichen für den Wechsel weiß Andreas Klauke nicht mehr, wo er lang zu gehen hat. Er wendet sich nach rechts, dann nach links. Schließlich findet er die Richtung, alles bleibt beim Alten.
Florian Gass kommt nach vorn, hat einen Kassenzettel in der Hand und liest die einzelnen Posten vor. Meist geht es um Schminke und anderen kosmetische Artikel. “218, Schminke” etc. Welche Währung? Schilling vielleicht?
Das Zeichen zum Wechsel ertönt wieder. Florian Gass nimmt seinen normalen Weg nach hinten. Andreas Klauke aber bleibt dieses Mal sitzen, steht nicht auf, um nach vorne zu gehen. Statt dessen stellt sich Florian Gass hinter den anderen, der noch immer auf dem Stuhl sitzt. Beide sagen: “Danke!”

Beifall.
Pause. Ich schreibe die letzten Wörter auf. Eine Dame neben mir sagt: “Du bist also der Writer?”. Ich nicke und eine andere Frau sagt: “Wieso, ich denke, daß ganze Festival wird nicht dokumentiert?” Eben doch, wende ich ein. Und die Dame, die mich ansprach, beruhigt: “Na, das ist doch auch ohne Strom!”

An einem Tisch sitzen eine junge Dame und ein älterer Mann. Sie trinkt Kaffee, er ißt Erbseneintopf. Sie unterhalten sich. Sie, eine Sängerin, wie sie erzählte, erklärt ihrem Gegenüber: Das Manko von Performance ist, daß man sie nicht einüben, einstudieren kann, an ihnen nicht herumfeilen kann, sondern daß sie im Moment entsteht, und das verleiht ihr manchmal den Makel von Unbeholfenheit, von Ungeübtheit.

DREI (ein Vortrag, Nr. 1):

Nach der Pause wird ein Vortrag angekündigt. Dieser wurde nicht mitgeschrieben, sondern in diesen Text per Diskette eingefügt. Christian Janecke, Kunstwissenschaftler, wissenschaftlicher Assistent an der Kunsthochschule Dresden, hielt einen Vortrag über die Zeitgestaltung in der Performance. Und der ging so: ....
Sollte so gehen, denn der Vortrag liegt nicht vor.

VIER:

Ein Stuhl steht im Raum. Auf diesen geht Stephan Us (Havixbeck bei Münster) zu. Er ist wie ein Kellner in schwarz gekleidet. Er setzt sich auf den Stuhl, schaut sich um.
Neben dem Stuhl ein Tablett, darauf eine Tüte Mehl, zwei Eier, ein Krug mit Wasser, ein Salzstreuer.
Stephan Us steht auf, zieht sich seine beiden Schuhe aus, streift das Jackett ab und hängt es über den Stuhl. Die Schuhe stellt er links und rechts neben den Stuhl. Sein weißes Hemd zieht es aus, langsam öffnet er Knopf für Knopf, öffnet die Manschetten und hängt das Hemd über den Stuhl. Einen Moment steht er still. Zieht sich dann die Hose aus. Legt sie zusammen und hängt auch sie über die Lehne. Er setzt sich, streift nacheinander erst den einen, dann den anderen Socken ab. Zum Schluß zieht er den Slip aus, legt ihn auf den Stuhl. Er ist jetzt splitternackt. Steht einen Moment da, blickt in die Ferne (an die Wand), atmet ruhig, die Anspannung ist zu sehen, Muskeln zittern. Us legt sich hin, direkt vor das Tablett, das vorm Stuhl steht. Er nimmt die Tüte Mehl, es ist Weizenmehl aus dem SPAR, setzt sich auf und bestreut sich von Zehen aus bis hoch zur Hüfte mit Mehl. Erst das linke Bein außen hinauf zur Hüfte, dann auf der Innenseite wieder herunter, dann folgt das rechte Bein. Ganz langsam geht er vor.
Er legt sich wieder hin, bestreut den linken Arm, der in kleinem Winkel vom Körper absteht. Der rechte Arm ebenso. Dann nimmt er den Kopf ganz herunter, bestreut, um-streut seinen Kopf, die Schultern, und liegt da mit geschlossenen Augen. Atmet und man kann den Herzschlag sehen.
Nach einem Moment steht Stephan Us auf, Mehl staubt von seinem Körper. Er nimmt die fast leere Tüte und stellt sie zurück aufs Tablett. Er greift sich ein Maßband, das auch auf dem Tablett lag, aber nicht zu sehen war. Mit Maßband und einem Stift nimmt er die Körpermaße. Mißt die Länge von den Fingerspitzen bis zum Ellenbogen an beiden Armen, mißt die Breite des Halses, der Schultern, der Brust. Nimmt Maß von Kopf bis Schritt, von Oberschenkel bis zu den Füßen. Ganz bedächtig, niederkniend. Seine vordere    Körperhälfte ist mit Mehl bestäubt.
Nach dem Messen wickelt er das Maßband wieder auf, schaut dabei auf seiner Arbeit nieder, steht dabei am Kopf seines Mehl-Körpers. Mit seinen Händen schiebt er das Mehl zusammen, häufelt es, erst die eine Seite, dann die andere. Von unten nach oben. Er formt mit der Faust eine Mulde in dem Mehlkegel, nimmt ein Ei vom Tablett, schlägt es am Boden auf und läßt den Inhalt in die Mulde gleiten. Das gleiche mit dem zweiten Ei. Die Eierschalen    kommen auf das Tablett. Von nimmt er ein Päckchen Hefe, wickelt es aus und zerbröselt sie, ein zweites Hefepäckchen kommt hinzu, die Mulde füllt sich, etwas Eiweiß läuft den Mehlhaufen herunter. Er nimmt den Salzstreuer und (wenn ich richtig mitgezählt habe) schüttet 38 mal Salz auf den Mehlberg. Gießt etwas Wasser dazu, beginnt zu kneten und muß mehrmals etwas Wasser dazugießen. Dabei kniet er, der Teig klebt an seinen Händen. Ein Klumpen liegt vor ihm.
Das Tablett wird ein Stück weggeschoben. Er steht wieder und legt sich einen Teil des Teiges auf seine beiden Füße. Teig kommt auch auf/in die Ohren, dann in die Nasenlöcher und auch auf die beiden Augen. Stephan Us kniet nieder, legt sich mit seinem Bauch auf den Teig und bleibt einen Augenblick liegen. Dann beginnt er, sich robbend vorwärts zu bewegen, über den Teig hinweg.
Der Teig hinterläßt dabei eine Spur. Auch das Mehl bildet eine Art Schleifspur.
Die robbende Bewegung wird stärker. Das Becken hebt und senkt sich. Er schnauft immer lauter. Die Arme arbeiten nicht mit. So robbt, schleppt er sich gut zehn Meter bis zu einer Wand. Hier  will er weiter, das geht aber nicht. Er will scheinbar mit dem Kopf durch die Wand, auch das klappt nicht. Das Becken hebt und senkt sich unaufhörlich. Immer heftiger wird die Bewegung. Auch das Schnaufen. Jetzt gehen auch die Arme leicht mit, bewegen sich irgendwie. Das dauert vielleicht drei Minuten, wird kurz noch heftiger. Dann aber ist plötzlich Ruhe. Nur einen Moment. Stephan Us hebt und senkt noch einmal sein Becken. Nur einige wenige Male. Dann sinkt er wie kraftlos zusammen, bleibt regungslos liegen.
Er steht auf und sagt: “Danke!”

Applaus und Pause.

Zurück bleibt eine Teigspur. Und ein bißchen Teig sowie die Spuren im Mehl, die durch das Aufhäufeln des Mehls entstanden.
Während er Performance von Stephan Us schauten mehrere Passanten durch die großen Fenster zu. Einige schauten ungläubig, andere interessiert, wieder andere amüsiert, nur zwei schockiert. Aber nur zwei bleiben stehen und sehen sich die Performance bis zum Schluß an.
Johannes nutzt die Pause, um den die Spuren der Performance zu beseitigen.
Derweil wird der Vortrag des Kunstwissenschaftlers von einem Grüppchen diskutiert. Andere Besucher blättern in Katalogen oder reden über irgendwelche Sachen. Auch die Bar ist gut besucht. Es gibt neben den obligatorischen Getränken, lecker belegte Brötchen und selbstgebackenen Kuchen. Johannes Schwester Astrid rührte dafür den Teig.

FÜNF

Ingolf Keiner und Stefan Berchtold (Berlin) fangen mit ihrer Performance einfach an. Im Vorraum, da, wo die Kasse stand, kommen die beiden herein. Von den meisten Zuschauern noch unbemerkt, die verstummen erst, als sich die beiden in Sichtweite des Publikums gearbeitet haben.
Die beiden haben ihre Köpfe zusammengesteckt. Zwischen ihren Köpfen klemmt ein fußballgroßer runder Klumpen dunkelbraunem Etwas. Ton, wie ich später erfrage. Sie sind beide gebeugt, wie Kämpfer stehen sie sich gegenüber. Manchmal müssen die nach dem Tonklumpen fassen, so, als ob sie nachprüfen müßten, ob er noch da ist. Vielleicht richten sie das Stück auch nur etwas. Sie bewegen sich eher langsam. Sie sind aneinander gebunden, wie es scheint, wollen die den Ton nicht fallen lassen, sich aber dennoch bewegen. Wie “auffangend” muten manche ihre Bewegungen an. Sie halten Balance. Müssen manchmal richtig laufen.
Nach etwa zwei Minuten geht Stefan Berchthold in die Knie.  Ingolf Keiner muß folgen. Beide versuchen, sich wieder aufzurichten. Das braune Ding rutscht. Die Lage wird schwierig, sie laufen direkt, die Köpfe, die Stirn fest auf den Tonklumpen gepreßt. Aber es ist nicht zu halten, es fällt, als beide, um es halten zu wollen, in Richtung Fenster laufen müssen. Es fällt auf den Boden. Da blieb es Freitagabend auch liegen.

Beifall und mal keine Pause.

SECHS

Als letzte Performance kommt Ulrich Lepka (Nürnberg) an die Reihe. Er beginnt sofort, als Ingolf Keiner und Stefan Berchtold mit ihrer Performance so schnell enden (müssen).
Schon den ganzen Abend über hatte Ulrich Lepka aufgebaut: Einen Tisch in eine Ecke direkt am Fenster gestellt, ein Klappbett aufgebaut, eine Zinkwanne auf den Tisch positioniert und mit einem langen gelben Schlauch Wasser vom Männerklo zu einem Wasserhahn in luftiger Höhe geleitet. Der Wasserhahn in etwa zwei Meter Höhe ist so installiert, daß sein Strahl in die kleine Wanne treffen könnte. Aber aus dem Wasserhahn tropft es nur. Ulrich Lepka drehte den Hahn zu Beginn seiner Performance nur so weit auf, das es stetig tropfte. In der Zinkwanne befand sich schon etwas Wasser und Kieselsand.
Leute, die draußen auf der Straße stehen, sehen zu. Die Zuschauer im Raum haben Ulrich Lepka umkreist. Der setzt sich an den Tisch und beginnt: Vor ihm ein großes Zeichenblatt, ein Tintenglas und ein Federhalter. Mit schwarzer Tinte setzt er kleine Strichchen auf das Blatt, immer dann, wenn ein Tropfen ins Wasser der Wanne gefallen ist. Solange schaut Ulrich Lepka auf den Hahn, folgt dem Tropfen mit dem Blick nach unten und macht dann einen Strich – irgendwo wo hin. Das spielt scheinbar keine Rolle.
Einige von den draußen zuschauenden Passanten machen jetzt ein paar Fotos.
Ich stehe genau hinter Ulrich Lepka und schreibe auf, wie er die Striche setzt etc. Das amüsiert einige Leute im Publikum. Einige gehen gleich wieder nach ein paar Minuten, andere bleiben länger stehen. Die Performance von Ulrich Lepka soll bis Sonntagabend andauern. Bis Sonntagabend immer das Gleiche. Erst Tropfen, dann Strich. Er will sogar in den Räumen der NBK schlafen.
“Das sind ja 60 Stunden”, sagt ungläubig eine Dame. Und fragt dann mich: “Und was machst du, machst du auch eine Performance?”
Nach zehn Minuten stehen nur noch acht Leute und schauen Ulrich Lepka zu, nach weiteren fünf Minuten keiner mehr.

Der Teig von Stephan Us’ Performance übriggeblieben, liegt als Fladen in einer Ecke. Daneben der Klumpen Ton, vom Kampf der zwei Köpfe verformt.
Morgen geht es weiter, die meisten gehen nach Haus oder einfach in die Berliner Nacht.
 
Samstag, 24. Oktober 1998

Es ist 18.02 Uhr. Ulrich Lepka sitzt an seinem Schreib-, besser: Beobachtungstisch, schaut den einzelnen Wassertropfen nach und setzt Strich um Strich auf sein großes Blatt Papier, das nicht mehr ganz weiß ist. Die steten Wassertropfen haben im Sand auf dem Boden der Zinkwanne eine kleine Mulde geschaffen.
Jetzt entdecke ich neben dem Feldbett auch einen Rucksack. Am Tisch steht eine Wasserflasche – gegen den Durst. Neu auf dem Tische ist auch eine Kaffeetasse, Papiertaschentücher, ein Ascher mit einem halben Zigarillo.

Auf der kleinen Tafel, auf der auch schon am Freitag die Performancekünstler des Abends mit dem Beginn  ihrer Performance vermerkt waren, stehen neue Namen. Wieder ist der Beginn der ersten Performance mit Punkt 18 Uhr angegeben. Aber am Freitag begann sie erst nach 19 Uhr. So wird es wohl auch am Samstag sein.

Aber da steht schon jemand im Raum. Alle sind unsicher, selbst die Organisatoren (wenigstens tun sie so). Der probt wohl erst noch, heißt es. Aber nach etwa zehn Minuten ist klar, er probt nicht, er performt seit Punkt 18 Uhr. Also jetzt:

SIEBEN

Heinrich Lüber (Basel) hat seinen Kopf in einen etwa acht Meter langen, dicken, grauen Schlauch gesteckt. Das eine Schlauchende ruht auf seinen Schulter. Das andere ist, nachdem es vom Körper herunter sich auf dem Boden windend, in etwa drei Meter Höhe an der Wand zu den Fenstern hin angebracht. Heinrich Lüber steht also da, ganz normal, und spricht vor sich her. Sehr leise. Und weil die Umstehenden – viel mehr als am Freitag – sich die ganze Zeit laut unterhalten, versteht man nicht alles, auch wenn man sich, was viele tun, mit dem Ohr an den Schlauch in Kopfhöhe . Außerdem erzählt es irgend etwas auf Schweizerdeutsch. So kommen nur Bruchstücke an: “... festerer Preis ... die Welt nach außen sichtbar bleibt ...”
Viele Gäste des Festivals schlendern herbei, halten ihr Ohr an den Schlauch, lauschen einen Moment und gehen dann wieder. Manche klettern dabei über den am Boden liegenden Schlauch.
Öfter versuche ich, vom Gesprochenen, mehr zu verstehen, aber nur Fetzen erreichen mich: “... Spuren am Boden ... Gipsformen, wo – wo – wo mit den Zähnen, also mit dem Unterkiefer ...”. Dabei spricht nicht fließend, macht auch mal ein Päuschen, stockt im Redefluß, muß scheinbar (hörbar) überlegen, was er sagen will.
Heinrich Lübers rechter Arme verharrt meist in ein und derselben Position. Mit der linken Hand passiert mehr. Mit dieser gestikuliert er, begleitet seine leisen Botschaften. Und manchmal faßt er sich mit der Hand an den Rand des Schlauches, so, als ob er prüfen müßte, ob der Schlauch auch richtig sitzt. Ab und an fummelt er auch an seinem Jackenrand herum.
Öfter steht Heinrich Lübers ganz allein im Raum, alle Besucher drängen sich im Tresenbereich, reden, trinken was, lachen – der Lärmpegel wird immer größer. Von draußen schauen Leute in die Räume der NBK.
“ ... auf verschiedenen Füßen stehen ... im Laufschritt durch – durch – durch –äh – elastische Schnüre ...”
Durchs Fenster macht ein Passant ein Foto. Der junge Mann schaute sich vorher zehn Minuten lang die Performance von Heinrich Lüber an.
“... Skifahren auf dem Wasser ... im Boot ... Fassade ...”
Nach genau eineinhalb Stunden bewegt sich Heinrich Lüber auf einmal richtig. Der sonst so stillgehaltene rechte Arm kramt in einer Jackentasche, holt etwas raus, das sich als aufklappbares Messer entpuppt. Er faßt sich hinten ans Hosenbund, hebt die Jacke hoch. Zum Vorschein kommen Schnüre, die mit dem Messer durchtrennt werden. Er nimmt den Schlauch ab, eine Tragevorrichtung aus Eisen wird sichtbar, die mit dem längeren Ende den Rücken herunterreichte und mit der Schnur entweder am Gürtel oder auch nur so um den Bauch herum befestigt war. Nicht alle kriegen mit, daß die Performance vorbei ist. Einige klatschen. Ein Mann ist sofort bei ihm und fragt ihn aus.  Auch ich frage nach. Was hat er erzählt?
Ich habe Vorstellungen von Situationen im Kopf, erklärt Heinrich Lüber, ich denke mir dazu Bilder aus und erzähle davon. Bilder für zum Beispiel eine Performance, der ihm in den Sinn kam, die er gerne mal ausprobieren würde, die aber schwer umzusetzen wäre. So etwas zum Beispiel: Im Auto sitzen, aus dem Fenster sehen, gegen den Fahrtwind reden, und später mit dem Fahrtwind reden – und so den Unterschied feststellen. Oder: Worte in Brot backen.
Und er sagt noch: Der Sauerstoff wurde nach eineinhalb Stunden im Schlauch knapp, sonst hätte er wohl noch länger durchgehalten.

Pause.

Besuch bei Ulrich Lepka. Ich sage Hallo und ein Mann fragt schöner weise nach bestimmten Intentionen der Strichsetzung. “Nö”, sagt Lepka, “im Moment nicht, kann aber später durchaus der Fall sein.” Ein anderer sagt: “Sie wollen doch bestimmt das Blatt total schwärzen?” “Tja”, räumt Lepka ein, “das ist die Konsequenz.”
Noch eine Frage kommt. Die, ob denn draußen auf der Straße auch Leute stehen bleiben würden, wenn Lepka, wie ja am Freitagabend angekündigt, Tag und Nacht an seinem Tisch sitzen würde. “Ja”, erwidert der Performance-Mann. “Da haben sie ja auch ein bißchen Abwechslung”, freut sich eine Frau, die das Frage- und Antwortspiel verfolgt hatte.
 
ACHT (ein Vortrag, Nr. 2)
 
Hans Jörg Tauchert  (Köln) hat sich auf einen sehr hohen Drehstuhl gesetzt und baumelt mit den Beinen, wenn er spricht. Sein Thema: “Strom – Performance – Video”. Dauer: 15 Minuten.
Er sagte folgendes (ebenfalls per Textdatei eingefügt und nicht mitgeschrieben, Hervorhebungen durch den Autor):
 
Performance, Strom und Video

“Ich will nicht einer Technik- bzw. Elektrizitätsfeindlichkeit Vorschub leisten, es kommt immer darauf an, wie man elektrischen Strom anwendet, ob der Strom zur Betreibung eines elektrischen Stuhles oder eines Rasierapparates benutzt wird, ob also jemand zu Tode befördert werden soll oder ob sich jemand die Mühen mit dem Rasierpinsel ersparen will, sind große Unterschiede. Es liegt jedenfalls nicht am elektrischen Strom, wenn jemand durch ihn hingerichtet wird. Man kann nicht die Todesstrafe bekämpfen, indem man den Strom abschafft. Der elektrische Strom selbst kann nichts dafür, wie er angewendet wird. Der meiste Strom wird sicherlich in der Industrie verbraten, nicht um die Menschheit mit nützlichen Gütern zu versorgen, sondern um daraus Geld zu machen. Zur Arbeitserleichterung oder Arbeitszeitverkürzung ist der elektrische Strom deswegen nicht vorgesehen.
 Für Performance bietet die Anwendung elektrischer Geräte einen enormen Zuwachs an Möglichkeiten und man findet auch vom Staubsauger über Computer bis zum Videobeamer alles vertreten bei Performance. Auch ein Kühlschrank fand mal Eingang in eine Performance. Wobei es eben immer darauf ankommt, was mit diesen Geräten bezweckt werden soll. Der Kühlschrank diente dazu, eine Küchenatmosphäre herzustellen. Es sind Hilfsmittel, die zusätzlich auf die Sinnesorgane der Zuschauer wirken. Hören und Sehen können mit Kassettenrekorder und Monitor zusätzlich beansprucht werden. Alle diese “elektrisch Mitwirkenden” sind mit einigem Aufwand zum Beispiel an Schlepperei verbunden, werden aber um der lieben Effekte willen, die damit erzeugt werden können, in Kauf genommen. Eine Performance soll schließlich interessante bewegte Bilder erzeugen, die beeindrucken sollen, leider oft ohne die Vermittlung irgendeiner Erkenntnis. Dabei ist es eben auch eingeplant, daß diese Geräte immer “mit Performance machen” mit von der Partie sind, sie führen eine eigene Performance auf, mal im Hintergrund mal auch im Vordergrund. Sie lenken von den Tätigkeiten der Performer ab und machen ihren eigenen Kram, aber der ist dann auch beabsichtigt. Mit Musik aus Rekordern soll ein bestimmter Effekt erzielt werden. Alle “elektrisch Mitwirkenden” müssen dem Performer dann schon einigen Aufwand wert sein, wozu das Besorgen, Anschleppen, die Suche nach Steckdosen, Aufbauen und Abbauen gehört. Das kann sich zu einem ziemlich großen Aufwand auswachsen.
Der Verzicht auf Elektrizität setzt die Performer unter einen künstlichen Zwang sich beschränken zu müssen.
Was tun ohne Kassettenrekorder oder ohne Monitor? Dies bedeutet aber auch keinen aufwendigen Transport, kein Auf -und Abbau, kein Suchen nach der Steckdose mehr. Mit dem Wegfall von Strom  ist eine Erleichterung verbunden, eine Ersparnis an Aufwand und Geld und die eine Möglichkeit gewonnen, daß Performance auch dort stattfinden könnte, wo keine Steckdosen vorhanden sind.
Und ein weiterer Vorteil: Der Wegfall von Strom betrifft alle Performer gleichermaßen, man setzt sich gleichen Bedingungen aus, d.h. niemand ist mehr durch irgendein elektrisches Gerät bevorzugt und niemand dadurch benachteiligt. Dabei ist auch der umgekehrte Fall möglich: alle bekommen die gleiche technische Ausrüstung zum Beispiel müssen alle einen Monitor benutzen.
 Performance mit Auflagen zu verbinden und diese gemeinsam auszuprobieren, schafft auch neue Formen der Performance und sollte viel öfter stattfinden. Zum Beispiel wurde in Köln 3 mal  die Veranstaltung “100 Performance an einem Abend” gezeigt. Diese 100 angekündigten Performance ließen sich dabei nur realisieren, weil jeder für seine Performance nur genau eine Minute beanspruchte. Die Minute wurde jedesmal gemessen und das Ende mit einem hörbarem Signal verkündet. Ein anderes Beispiel ist die Massenperformance. Dabei wird die oft praktizierte Einzelperformance um weitere Beteiligte erweitert. Außerdem wird der Unterschied zwischen Zuschauer und Performer aufgehoben, indem alle zusammen auftreten, ohne das klar ist, wer Performer ist und wer Zuschauer. Das ergibt einen unvorhersehbaren Wechsel der Aufmerksamkeiten. Daraus entwickelte sich dann die Schweigeparty - wie der Name sagt - sollte nicht gesprochen werden bei dieser Massenperformance, die dann regelmäßig zu einigem Lärm führte.
Wenn es bei Performance-Veranstaltungen ohne elektrischen Strom zugehen soll, so ist davon auch die inzwischen fast zur Pflicht gewordene Aufnahme der Performance auf  Video betroffen. Was unter dem Titel Dokumentation ausgiebig betrieben wird, so daß man dieser Art Dokumentation, wenn man es nicht will, kaum entrinnen kann.
Die Performance zieht Video an und beide kennzeichnen sich so gegenseitig: wo Videokameras in Betrieb sind, da läuft eine Performance und wo Performance stattfinden, da sind auch Videokameras versammelt. Das paßt ja auch gut zusammen, weil mit Video bewegte Bilder gespeichert werden und Fotoapparate diesen Dienst nicht  leisten können.
Unabhängig von Aufnahmen, die jemand aus dem Publikum macht, haben Performer selber ein Interesse daran, über jede ihrer Performance ein Videoband zu besitzen. Sie sorgen dann dafür, daß jemand diese Aufnahmen für sie macht und lassen sich das auch etwas kosten. Denn wer mithalten will in dem mageren Geschäft mit Performance, muß Videobänder eigener Performance immer vorzeigen können. Wo sich eine Gelegenheit bietet, Performance aufzuführen, müssen meistens Videos eingereicht werden, damit geprüft werden kann, ob die Sache dem Ansehen des Ladens und was nicht sonst noch alles eine Rolle spielt, von Nutzen ist. Videobänder sind eben nicht nur Dokumentations-, sondern auch Werbematerial. Wer damit nicht dienen will oder kann, liegt ziemlich aussichtslos hinten im Rennen um die Gunst von Staat, Kirche und Sponsoren. Kein Wunder also, daß Performance  so oft als Vorlage für Kopien herhalten müssen. Bloß – viel hat das mit Performance nicht zu tun - eher schon mit Vermarktung.
In den kleinen Videocassetten steckt eine große Potenz. Sie sind in der Lage die wirkliche Performance zu ersetzen. Daraus entsteht ein ganz eigene Dynamik.
Dank Video können mehrere Zuschauer, wie bei einer normalen Performance sich auf dem Bildschirm Performance ansehen. Eine Zeitlang gab es in der Ultimate Akademie in Köln ein Video-Café, das zu diesem Zweck einlud.
Unter diesen Bedingungen wäre es ja gar nicht unangebracht,  Performance in aller Ruhe, ohne Zuschauer, ohne störende Einflüsse, zuhause oder im Studio auf Video aufzunehmen. Wenn nun anschließend noch für einen Vertrieb gesorgt wird, ist für eine Verwertung alles vorhanden. Flächendeckend, überall wo Abspielgeräte sind und Performer vielleicht gar nicht hinkommen können, könnten Videos gezeigt werden. Auf diese Weise erfolgt eine Trennung von Performance und Performer, der zuhaus bleibt und sich die nächste Performance ausdenkt. Nicht nur die Möglichkeiten dafür sind alle vorhanden, dies Szenarium gibt es bereits in Form der Videotheken und könnte für Performance sofort Realität werden, wenn es nur eine genügende Nachfrage nach Performance-Videos gäbe. Es besteht allerdings nicht der geringste commerzielle Bedarf nach dieser Sorte Videos. Warum das so ist, dürfte kein Rätsel sein und auch über einige Video - Cafés und sonstige Ansätze dieser Art kommt kein schwunghafter Handel zustande.
Vergleicht man die Kopie der Performance mit der wirklichen Performance, so muß man der Kopie Eigenschaften bescheinigen, die der wirklichen Performance völlig abgehen und ihr ohne Zweifel haushoch überlegen sind. Dazu gehört die bequeme Wiedergabe und die leichte Kopierbarkeit, die eine massenhafte Verbreitung möglich macht. Aus der vergänglichen Performance ist eine begrenzt haltbare und damit eventuell handelbare Ware geworden. Beides, sowohl wirkliche Performance, als auch ihre Kopie haben allerdings auf dem Kunstmarkt keine Chance, größeren Reichtum anzuziehen: Die Performance nicht, weil niemand sie kauft wie einen Picasso für 10 Millionen Mark oder auch nur 1000.-, denn das vergängliche Produkt zerfällt meist spurlos sofort nach der Aufführung. Weiterverkauf mit Gewinn bleibt ausgeschlossen. Kunstwerke, die dieser blöden Anforderung nicht genügen sind sowieso nicht existenzfähig. Das Original, die Einmaligkeit, die Kunstkäufern doch sonst soviel wert ist, spielt bei Performance keine Rolle. Und mit der Performancekopie sieht es nicht viel besser aus, sie müßte ja beweisen, daß sie Einmalig wäre.
Das ganze hat nun mit Performance wenig zu tun. Es dreht sich alles um die Verkäuflichkeit und die entscheidet dann über weitere Existenzmöglichkeiten. Bei Videos könnte man sich zumindest den ganzen Zirkus sparen.
Wenn keine Videoaufnahmen stattfinden sollen, haben wir versucht diesem Ereignis zur besseren Unterscheidung die Bezeichnung Ultipance zu geben. Während die elektronisch aufgerüstete Performance Elektropanz heißt. Das Produkt der Videoaufnahme, der Mitschnitt heißt anschaulich Elektropansat, wie Filtrat das Ergebnis einer Trennung.
Damit soll auch eine Form der Performance Verbreitung finden, die auf Video verzichtet und dies als unnötigen Aufwand erachtet. Die Performance ist Endzweck und ihre Dokumentation ist durch die Zuschauer hinreichend erbracht. Will man eine zusätzliche Dokumentation, so müßte die Videomaschine durch Menschen ersetzt werden, die nun zeichnen, schreiben und erzählen. Tätigkeiten, die in diesem Zusammenhang geradezu avantgardistisch erscheinen müssen. Das Gedächtnis der Menschen wird immer mehr überflüssig, ein Zeichen, daß der Mensch sich immer unwichtiger neben der Maschine herausnimmt. Offensichtlich ist Performance auch ein Gemeinschaftswerk in der Übertragung von Mensch zu Mensch. Der Übertragungsweg wird durch Videokassetten ersetzt. Die Verbreitungskette Performance-hören-weitererzählen-hören-weitererzählen- entspricht der menschlichen Kommunikation. Während die Medienwelt die Kette Performance - weitersehen - weitersehen - weitersehen - weitersehen - weitersehen - anbietet. Wobei nicht gesagt sein soll, daß Videos auf anderen Gebieten als Performance nicht eine nützliche Rolle spielen.
Natürlich kann man auch im Verzicht auf Video eine Marktstrategie sehen, um die Performance exklusiv und damit auf eine andere Weise verkäuflich zu machen. Diesem Zwang ist nun noch weniger zu entkommen, als dem Video.
Die direkte Übertragung Performer-Publikum, leicht zu realisieren, bleibt die schützenswerte, vom Aussterben bedrohte Übertragungsart. Der umgekehrte Ersatz der Videomaschine durch Menschen sollte eine Performance zeigen, die Parzival und ich bei “meine Fresse Club”, Köln aufführten:
Wir begannen damit, daß jeder für sich eine bespielte Videocassette auspackte. Sodann fingen wir damit an, jeder für sich, das Magnetband herauszuziehen. Parzival lief dann ins Publikum, umwickelte es mit dem braunen Band und fesselte es, wie das ein Video auch tun soll (erstaunliche ca. 300 m). Während ich ebenfalls das Band herauszog, es nun aber vor die Augen hielt und abschnittsweise erzählte, was ich darauf sah (mehr als eine Beschreibung von Performance kommt dabei nicht raus)
Viel interessanter als die Übertragung ins Medium Video wäre die Übertragung der Performance ins schriftliche, als Protokoll aus dem hervorgeht, was Absicht und Bedeutung der Performance war. Damit kann vielleicht verhindert werden, daß Performance nur noch Gags und Verwirrung liefert.”

NEUN

Sarah Marrs (aus Chicago kommend, in Berlin lebend) war mit ihrer Performance erst für 20.05 Uhr angekündigt, sie fing aber schon gut eine halbe Stunde früher an.
Sie tackert verschiedene Bilder an die weiße Wand, die an den Tresen heranreicht. Nach etwa fünf Minuten bittet Johannes um Aufmerksamkeit, die Performance würde jetzt beginnen. Und er bat um Ruhe, schließlich würden alle ohne Strom auskommen müssen. Die Flüstertüte steht dann auch schon da.

An der Wand mit Klammern befestigt sind neben Fotos von einer Frau auch Modefotos, eine Postkarte und eine Zeitungsseite (Kolumnenzeile: “Reichsblatt”) und ein Blatt Papier mit einem getippten Text zu sehen. Eine Turnhose, alt, grau und ausgebeult hängt da ebenfalls. Und ein schönes Seidentuch mit sechs runden Aufklebern. Man kann nicht erkennen, was sie abbilden.
Vor die Wand stellt und legt Sarah Marrs verschiedene Dinge, die sich nicht immer genau identifizieren lassen. Man müßte hingehen, die Dinge von ganz nahem sehen oder umdrehen. Eine Ledermappe klappt sie auf, man erkennt Kontaktabzüge, es sind Frauenporträts. So wie es aussieht von nur einer Frau. Von der Frau, die auch von den großen Fotos an der Wand herunterblickt. Dazu stellt sie an der rechten Seite der Wand ein Gestell aus Holz, das an ein Fensterkreuz erinnert. All das holt sie aus einer Ecke, da, wo auch der Garderobenständer zu finden ist.
Dann stellt sich Sarah Marrs vor die Wand, setzt sich die Maske einer alten Frau auf, dazu ein dunkelroter Strohhut.
“KUNST IST KEIN VOYERISMUS” sagt sie auf deutsch, die Hände dabei an den Mund wie zu einem Trichter gelegt.
Wieder geht sie in die Ecke mit ihren Utensilien, holt etwas, man kann nicht erkennen, was. Sie beginnt das “etwas” aufzublasen. Es wird größer und größer. Und erkennbar: Eine  aufblasbare Plastenachbildung der Figur aus Edvard Munch’s Bild “Der Schrei”. Sie stellt die aufgeblasene Figur mit dem Gesicht zur Wand ab. Nimmt die Flüstertüte an den Mund, sagt aber nichts, wechselt dafür die Position, dreht sich nach rechts und dann auch nach links, immer mit der Flüstertüte am Mund. Die nimmt sie aber gleich wieder runter und holt etwas aus einem Koffer, der um die Ecke steht.
Ein Totemsymbol aus Plaste  hängt sie in das Fensterkreuz. Rechts und links tackert sie an den Rand der weißen Wand zwei runde, nicht näher definierbare Dinger an.
Sarah Marrs nimmt wieder die Flüstertüte: “Wants you a pop, you cant stop” sagt sie und holt dann einen Eimer hervor, und holt ein Ding aus Plaste heraus, stellt es ab vor der Wand. Und stellt sich an die Seite der Figur “Der Schrei”, hebt den Eimer auf ihre rechte Schulter, geht im Kreis herum, hebt ständig den Hut auf und setzt in wieder ab – wie zum Grüßen. Dann nimmt die den Strohhut ab, hält ihn vor die Brust, legt ihn sodann nieder und nimmt die Flüstertüte. Dreht sich damit nach rechts, dann zur Wand, nach links, immer noch den Eimer auf den Schultern. Nachdem sie die Flüstertüte wieder abgelegt hat, trägt sie mit einem singssang-mäßigen Tonfall vor: “When you walk -  it’s a parade - with baerdancing – fish swimming – Monkeys laughing hard.” Das wiederholt sie noch einmal.
Und dann sagt sie ganz zärtlich “The Baby” und sieht in den Eimer, holt mit ihren Zähnen eine kleine, vielleicht 40 Zentimeter große Figur heraus. Bläst sie auf. “The Baby”, sagt sie noch einmal. The Baby ist eine kleine Figur des “Schreis”. In den Arm der großen Figur steckt sie das “Baby”. Und geht plötzlich durch die um sie herum stehenden Menschen hindurch, umrundet den Halbkreis, unterm sieht man jetzt einen Zeichenblock. Als sie zurück vor die Wand kommt, nimmt sie die Maske und auch den Hut ab, kniet nieder und blättert im Block. Nur Zeichnungen. Nicht erkennbar beim blättern. Eine bleibt offen liegen, irgend etwas abstraktes, mehr  Zeit zum sehen bleibt nicht, denn Sarah Marrs macht gleich weiter.
Sie besprüht Teile der Wand, einige Stücke, die dort hängen, mit Wasser aus einer Sprühflasche. Auch die Totemmaske aus Plaste wird besprüht. Gleich mehrmals, das Wasser nimmt sie mit ihrer Hand wieder ab und verreibt es sich – wie waschend – im Gesicht.
Dann sprüht sie Wasser in ein kleines bereitstehendes Gläschen. Setzt die Maske wieder auf. Und wieder ab. Legt, hängt die Maske ins Fensterkreuz. “TOTEM POLE SOAP” sagt sie dazu durch die Flüstertüte. Setzt den Hut wieder auf, steht mit der Flüstertüte vor dem Mund da, nimmt ihren Eimer und räumt wieder ein. Das Gläschen, so ein Figurending, sprüht zwischendurch Wasser nach links und rechts, packt weiter ein und stellt den halbgefüllten Eimer auf den Zeichenblock, der in Nähe der Ledermappe liegt. Darin blättert sie, zwei Klarsichtfolien  zeigt sie, in ihnen zwei große Fotos von einer Frau, scheinbar die gleiche, wie auf den Bildern an der Wand.
Sie geht nach vorn, nach hinten und ahmt dann die Haltung der Figur “Der Schrei” nach. Hält die Hände an den Kopf, dann an die Ohren – dreht sich nach allen Seiten, variiert dabei die Stellung der Hände und die Form ihres Mundes. Sie packt den Tacker in den Eimer, schaut noch mal in den Eimer rein, hockt dabei und sagt:
“IS THAT MY? – IS THAT MY?”
Wieder ahmt sie die Figur nach, nur knapp angedeutet, für Sekunden, und geht wieder im Kreis herum – hatte schon vorher Hut und Maske bei Zeichenblock und Flüstertüte abgelegt.
Wieder holt sie was, aber was? Wieder ahmt sie die Figur nach. Nur kurz.
Dann nimmt sie die Ledermappe und das Holzkreuz unter dem Arm, stellt es wieder in die Ecke. Gläser, Zettel, Fotos und Turnhose landen im Eimer. Einzelne Stücke von der Wand legt Sarah Marrs nach vorn, also vor die Füße der Zuschauer. Zwei kleinere Bilder, eine Postkarte. Zwei größere Bilder hält sie in einer Hand. Die Wand ist leer. Auch der Zeichenblock wird zugeklappt und weggetragen. Auch die Maske, den Hut und die Flüstertüte trägt sie nach hinten in die Ecke. Dort nimmt sie ein kleines Holzkästchen als Art Handtasche an sich, kommt wieder nach vorn und sagt einfach “Danke!”
Beifall, Pause.
Das Holzkästchen ist übrigens in der Tat ihre Handtasche. Diese trägt sie auch am Sonntag.

Viele gehen einen Moment an die frische Luft. Andere müssen an die frische Luft zum Rauchen. Am Samstagabend dürften es gut 50 bis 60 Zuschauer sein.
Zwei Passantinnen bleiben bei Ulrich Lepka stehen. “Moni”, sagt die eine zur andern, “schau doch mal hier, das gefällt mir.” Die andere stimmt zu und entdeckt: “Und er trinkt ja auch passend Wasser dazu.” Beide entschließen, durch die offene Fenstertür ins Innere zu gehen. Aber weil gerade Pause ist und nicht passiert, sind sie unschlüssig und gehen nach einigen Minuten wieder raus.

In einer Ecke schminkt sich eine Frau. Warum wohl?

ZEHN

Weil sie gleich ihren Auftritt hat. Maren Strack (Berlin)  trägt ein schwarz-türkis glänzendes Kleid, das lange braune Haar trägt sie offen. Sie trägt einen dieser weißen und langen Bausteine, legt ihn ab, stellt sich davor und wartet einen Moment, bis alle mitbekommen haben, daß sie mit ihrer Performance anfangen möchte.
Sie stellt sich auf den Stein, beginnt zu tanzen. Flamenco. Erst jetzt, als sie zum ersten Mal richtig mit ihren schwarzen Schuhen aufstampft, erkennt man, daß sie an ihren den Sohlen ihrer Schuhe so etwas wie Spikes (oder so) trägt, auf alle Fälle etwas Spitzes. Und folgerichtig platzt auch schon ein paar Sekunden später ein kleines Stückchen vom Stein ab.
Sie dreht sich auf ihrem Stein, nimmt die Arme nach oben und windet sie dabei Flamenco-mäßig (im Flamenco beschreiben bin ich nicht gut). Sie hebt den Rock, tanzt (bewegt) rückwärts und wäre dabei einmal fast heruntergefallen, wenn sie sich nicht gleich wieder gefangen hätte. Sie tanzt weiter, wird immer schneller und stoppt abrupt, knallt dabei die Füße so richtig hart auf den Stein auf. Flamenco eben.
Sie beginnt mit ihrer Zunge im Mund einen Klong-Laut zu erzeugen. “Klong, klong, klong” macht es immer lauter. Dabei vollführt sie mit ihrem Armen flamenco-mäßige Figuren, stampft mit ihren Schuhen auf, als ob sie sich die Sohlen fetzen wollte. Sie stoppt, knallt hart auf den Stein. Zwei größere Stücken brechen jetzt ab.
Maren Strack tanzt weiter. Stampft immer stärker. Die Arme in den Hüften, die schnalzenden Laute aus dem Mund, wird sie immer schneller, ohne das Gleichgewicht auf dem schmalen Stein verlierend. Immer wieder platzen kleinere Stücken ab, allerhand Staub wirbelt auf, legt sich als Staubschleier um den Stein, um ihren Tanzort herum ab.
Sie schart, stampft, bearbeitet den Stein mit ihren Schuhen. Beginnt wieder zu tanzen, langsam. Dabei spielt sie mit ihrem Rock, hebt die Enden und wedelt sie mal nach links, mal nach rechts. Der Stein ist auf der einen Seite ob der beiden größeren abgeplatzten Stücke schmaler, deshalb hakt sie manchmal mit ihren Absätzen an der Steinkante, einmal strauchelt sie fast, fängt sich aber wieder und tanzt weiter.
Sie lächelt nie beim Tanzen. Das ist wohl nicht flamenco-like.
Plötzlich stoppt sie. Dreht sich nach links, da wo der Stein noch breiter ist. Tanzt schnell. Dreht sich wieder nach rechts, zum schmalerem Ende. Schart, stampft, knallt die Schuhe auf den Stein, auf dessen Ecken und Kanten oder einfach oben auf.
Dann kommt ein Moment der Stille. Sie steht still. Tanzt aber gleich weiter. Man sieht nicht genau, ob der Stein nicht weiter am schmalen Ende auseinander gebrochen ist. Ist er aber, denn Maren Strack steigt vom Stein herab und legt das große, aber kleinere, abgeplatzte Stück auf das große Stück, den Mutterstein sozusagen. Stellt sich oben auf und beginnt wieder mit dem Tanz. Richtig toll. Und der Stein wackelt. Das sieht gefährlich aus. Ob sie herunterfällt?
Macht sie aber nicht, dafür dreht sie sich beim Tanzen wieder in verschiedene Richtungen, fällt dabei einmal fast von den beiden Steinen, fängt sich aber wieder. Und beginnt wieder, ihre schnalzenden Klang-Klong-Laute zu produzieren.
Immer öfter rutscht sie auf dem kleinen (der auf dem großen liegt) Stein ab, tanzt aber weiter. Stampft auf, immer wieder fetzt sich ihre Schuhe, Steinsplitter und Staub fliegen durch die Luft. Dabei arbeitet sie wieder mit den Armen, spielt mit ihrem Rock, hält ihn hoch und stoppt mit lautem Knall der Schuhe wieder ihren Tanz. Sie wackelt, kippelt mit dem kleinen Stein, stampft stärker auf, dreht sich dabei. Und sie schaut bei all dem nie nach unten, nur starr gerade aus. Mittlerweile hochrot im Gesicht.
Alles wiederholt sich: Tanzen, drehen, Rock, Armbewegungen, Stampfen etc. Das Stampfen wird wieder stärker, Splitter fliegen – so tanzt sie minutenlang.
Dann steigt sie herab, sucht ein drittes, wiederum kleineres Stück, legt es auf und stellt sich auf ihre kleine Steinpyramide. Das ist eine wacklige Geschichte. Nicht mal mehr der halbe Schuh hat Platz auf dem obersten Mini-Stein-Stück. Maren Strack tanzt deshalb jetzt ganz langsam. Wacklig! Die Arme rudern, um das Gleichgewicht zu halten. Aber nach etwa zwei Minuten fällt sie herunter, fällt aber nicht auf den Boden, bleibt stehen – Ende. Sie geht nach hinten weg. Erntet viel Beifall. Sie tanzte 20 Minuten lang.
Und Pause.
Johannes fegt Steinchen und Staub etwas zusammen, ansonsten aber bleiben die zertanzten Steine einfach so liegen.
Nach einer Minipause von ein paar Minuten geht es weiter. Mit der Nummer:

ELF

Fridolin Kleuderlein vom Institut INFUG (Bamberg) stellt einen Stuhl mitten den Raum. Und geht wieder. Gehört das schon zur eben angekündigten Performance? Nein. Oder? Jedenfalls setzt sich auch gleich eine Frau aus Publikum, froh, noch einen Sitzplatz ergattert zu haben. Denn es ist voll.
An der Wand, an der sich zuvor Sarah Marrs abgearbeitet hat, steht ein Tisch. Wegen der vielen Besucher konnte man nicht gleich sehen, was da vor sich ging. Eine junge Frau, heißt Birgitta Wehner, ist splitternackt. Sie hat sich den Tisch und einen Stuhl dorthin gestellt. Sie wischt den Tisch ab. Also hat die Performance doch begonnen.
Fridolin Kleuderlein kommt wieder zum Vorschein, aus der Ecke dürfte er die Geige und den Notenständer hervorgeholt haben. Beides trägt er rüber zum vorhin im Raum plazierten Stuhl. Pech, die über den Sitzplatz glückliche Festivalbesucherin muß doch wieder aufstehen. Dafür sitzt inzwischen Birgitta Wehner am Tisch. Muß sich in der Zwischenzeit mit verschiedenen Papieren eingedeckt haben, denn jetzt liegen sie vor ihr. Etwa drei Meter von der nackten Frau entfernt steht ein zweiter, größerer Tisch, schon vorher da positioniert. Dahinter ein Stuhl. Fridolin Kleuderleins Sitzplatz. Bevor er sich setzt, stellt er noch an den nahen Pfeiler drei verschieden starke Holzstäbe, alle etwa zwei Meter lang.
Auf dem Tisch Papiere. Auf einem Blatt kann man “Text 1” lesen. Ein flacher Verpackungskarton enthält eine ovale Plexiglasscheibe. Etwas steht auf dieser Scheibe. Man kann es lesen, als Fridolin Kleuderlein sie in die Hand nimmt, mit ihr eine Runde durch den Raum geht, und allen beim Vorbeigehen die Scheibe so zeigt, daß man “Membrane” lesen kann. Er hält diese Scheibe auch an die Wand, an der Birgitta Wehner ihren Tisch aufgebaut hat. Dann setzt er sich wieder, nur ganz kurz, steht wieder auf und nimmt sich den dicksten Holzstab, vielleicht so stark wie ein 50-Pfennig-Stück, geht zu den Steinen, die noch von der Flamenco-Performance im Raum liegen, stützt das eine Ende des Stabes auf die Steine und drückt auf das andere. So, als ob er prüfen wollte, wann der Stab bricht. So, als ob er in einem Boot auf einem See staken würde. Nach etwa 30 Sekunden stellt er den Stab zurück an den Pfeiler und kehrt zu seinem Tisch zurück. Schaut in sein Buch, nimmt die Plexiglasscheibe in die Hand und spricht. Davon, daß sie in ihrer Performance versuchen, Modelle zu verwenden, um daß, was sie sagen wollen, zu verdeutlichen. Die Plexiglasscheibe sei so ein Modell. Und er kündigt an, den “Text 1” zu lesen.
Er liest:
“Innerhalb unserer Vorführungen, die um Vorstellungen dessen kreisen, was ein Bild ist und welchem Verhältnis dazu Ereignisse und Handlungen stehen, spielen Modell eine wesentliche Rolle. Modelle erlauben, spezifische Kennzeichen in Verkleinerung und damit in besserem Überblick sichtbar zu machen. Die Plexiglasscheibe, die ich soeben zeigte, ist so ein Modell. Sie ist ein Modell eines Tafelbildes. Auf der Platte steht in traditionellem Siebdruckverfahren ‘Membrane’ aufgedruckt. Ein Bild ist also eine Membrane, die einen Raum vor dem Bild von einem Raum hinter dem Bild trennt. Im Gegensatz zu einem gemalten Bild hat dieses gezeigte Bild noch zwei große Vorteile: es ist greifbar da, und nimmt sich in seiner Transparenz gleichzeitig zurück. Es, das Modell, spricht von sich selbst, von dem, was es selbst ist.” (Dieser Text wurde nicht mitgeschrieben, sondern in Kopie nach Hause getragen und – wie  der Rest – mühsam abgetippt.)
Er legt die Scheibe zurück in die Verpackungsschachtel, geht hinüber zum Stuhl im Raum, nimmt die Geige und spielt vor dem Notenständer ohne Noten einige Töne. Besser: Er geigt, er gibt einige Töne der Geige preis, drei, vier Streichzüge. Dann geht er zum Tisch zurück.
Die Frau am zweiten Tisch. Sie nimmt ein Blatt Papier und liest vor:
“Text 2: Wir zeigen häufig eine Diaprojektion eines Bildes von Joseph A. Koch, wenn modellhaft verdeutlicht werden soll, wie man vom statischen Bild zum ereignishaften Geschehen kommt. Sehen Sie! [Fridolin Kleuderlein zeigt derweil mit einem Stock an der Wand, gleich neben der Sprecherin, das, was sie vorliest am imaginären Diaprojektorbild.] In der Mitte des Gebirgspanoramas ist vor einem dunklen Hang ein kleiner Gebirgssee. Er liegt oval leicht von oben gesehen vor dem Betrachter. Seine Oberfläche spiegelt die umliegenden Berge kopfüber. Ein Schillern und Glänzen. Etwa in der Mitte des Sees steht in einem länglichen Kahn ein Fährmann, der eine Frau und ein Kind von einem Ufer zum anderen fährt. Er steht und führt in der Hand einen langen Stab, der die Fläche des Sees berührt. Sehen Sie! Verstehen Sie jetzt, warum dieses Bild gezeigt wird? Wenn sich jemand von einem Ufer zum anderen bewegt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der starren Landschaft auf das bewegte Ereignis. Jetzt sind wir im Bild schon fast hier jetzt im Raum. Hier ist jetzt eine Handlung.” Sie bleibt sitzen, er aber geht in die Ecke hinüber, in der vor dem Tresen die Tische und Stühle stehen. Dort setzt er auf einem Tisch den Holzstab wieder an, vollführt also eine Fährmannsgeste.
Fridolin Kleuderlein geht zurück zu seinem Tisch, stellt vorher den Stab wieder weg, schaut stehend in das Buch vor ihm, eine technische Zeichnung ist zu erkennen. Nach einem Moment stellt er sich vor die Leute und beginnt in freier Rede “Text 3” zu verkünden. Und der geht so:
“Jetzt erkennen Sie natürlich, daß diese Bildbeschreibung eine Täuschung war. Ein Fährmann, der die Seefläche nur berührt, wäre niemals in der Lage, das Boot zu bewegen. Es geschieht ja etwas völlig anderes. Wer das Bild zum Ereignis machen will, muß die Bildfläche durchstoßen. Stößt der Fährmann hindurch und dringt er bis zum Grund vor, dann erst findet er widerständigen Fels, von dem er sich abstößt. Sehen Sie hier dieses gemalte Ereignis übertragen auf das Bildmodell und die Situation jetzt hier. Das ist der See. Hier sind modellhaft die Löcher des Bilddurchstoßes. Sehen Sie, was jetzt geschieht? Jetzt steht hier ein bewegtes Modell. Der Stab des Fährmanns kommt im Bilddurchgang zum Grund. Er kommt zur Wand dieses Raumes. Mit der Berührung der Wand des Raumes sind wir vom Bild und von den Modellen hierher zur Handlung gekommen. Beinahe!”
Während er spricht, steht Birgitta Wehner auf, geht zum zweiten Tisch hinüber und nimmt dort die Plexiglasscheibe, hält sie gegen die Wand. Fridolin Kleuderlein nimmt sich den dünnsten Holzstab und steckt diesen durch das Loch der Scheibe, kommt so mit dem Stabende auf der Wand auf und verharrt so einen Augenblick. Nimmt sodann die Scheibe in die Hand. “Der Grund ist die eigentliche Wirklichkeit, der See nur der Schein.”
Er geht zum Tisch, holt sich dann den dicksten Stab und stützt dieses auf der Schulter eines jungen Mannes aus dem Publikum auf – wieder die Fährmannsgeste. Das gleiche auf den Steinbrocken und an einem Fenster, hoch über seinem
 Kopf, und am Tresen. Den Stab zurück, er geht zum Tisch, schaut ins Buch und sagt: “Wenn Sie das Ereignis mitverfolgt haben, ..., eine Performance muß durch Statik den Grund finden – aber wie? , wenn sie durch das zweite Bild, die gesprochene Sprache abgelenkt wird?”
Dann trägt er “Text 4” vor:
“Noch ist im Raum hier ein zusätzliches Bild, das bisher die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und damit die Energien von dem, was hier ist, abgezogen hat, nämlich das Bild der klingenden Sprache. Es stellt sich also die Frage, ob es auch eine Öffnung durch die Sprache hindurch gibt, um auf den Grund dessen, was hier jetzt wirklich ist, zu kommen.
Bildhaft und das, was ist, verdeckend, ist die Sprache dann, wenn sie Bedeutung hat. Hat sie nämlich Bedeutung, dann deckt sie zu, was sie eigentlich ist. Um zum Grund zu kommen, muß man an der Sprache vorbei. Hören Sie jetzt genau! Sprache ist Klangstrom, der von der Körperöffnung aus in den Raum dringt. Hören Sie!”
Diesen Text tragen, zeitversetzt beginnend, auch die nackte Frau am Tisch, Johannes, der an Pfeiler lehnt, und wenig später ein zweiter Mann, der in einer Ecke steht sowie ein dritter Mann, der nicht zu sehen ist, vor. Als Fridolin Kleuderlein mit seinem Text endet, verstummen auch die anderen vier LeserInnen.
Mit einem Stab geht Fridolin Kleuderlein zum Tisch, an dem die Frau sitzt und vollführt die Fährmannsgeste. Diese zeigt er noch einmal, vor einer Bierflasche eines Zuschauers. Geht zur Geige, entlockt ihr drei, vier Töne. Die Frau geht zur Wand, die ihr gegenüberliegt, an der ein Stück längliches Papier befestigt ist. In der Hand hat sie eine Art Modell, das legt sie aufs Papier und zeichnet mit einem schwarzen Stift die Konturen nach. Zwei Linien, am linken Ende etwa zehn Zentimeter auseinander, die sich aber aufeinander zubewegen und nach etwa zwanzig Zentimetern treffen und noch ein Stück als gemeinsame Linie fortgeführt sind. Die Frau setzt sich wieder und er erklärt die Zeichnung. ‚Hier sind zwei Stränge, ein Bild, das von den beiden Strängen erzeigt wird, ein tatsächliches Bild. – Wir sind vielleicht gerade hier’, sagt er und zeigt dabei auf die Schnittstelle der beiden Linien.
Dann packt er sein Buch und Papiere ein, bringt die flache Schachtel weg. Sie hat ihren Tisch abgeräumt. Er bringt auch die drei Stäbe weg. Er stellt sich in den Raum und sagt: ‚Jetzt geht es noch darum, den Punkt näher zu kommen, an dem die Spannung beider Bildebenen aufzuheben ist.’ Er geht zur Geige, drei Töne, nimmt sie mit sich als er geht und bringt sie in die Ecke, wo schon alle anderen Dinge wieder lagern. In der Zwischenzeit hat sich seine Partnerin wieder angezogen. Er holt den Stuhl (da, wo Geige gespielt wurde) aus dem Raum zurück, sie bringt ihren Stuhl weg – beide setzten sich sodann einen Augenblick lang unter die Zuschauer, die an den Tischen beim Tresen sitzen. Dann steht er wieder auf, geht zur Zeichnung hinüber und spricht:
“Noch eine Übung, noch einen Schritt heute. Diese Bedeutungsebenen näher zusammen zu kriegen”, zeigt er auf die beiden Linien, setzt sich wieder, trinkt einen Schluck Wein. Beide stehen dann auf und gehen einfach raus.
Ende und Beifall und Pause.

Die Pause nutzt Sarah Marrs dazu, wieder die Luft aus ihrem aufgeblasenen Figuren heraus zu bekommen.

ZWÖLF
 
Boris Nieslony (Köln) baute schon in der Pause verschiedene Utensilien auf. Er stellte den Tisch in die Nähe des Pfeilers, legte dort Dinge ab: Ein großer Wollknäuel, eine Federtasche (oder so), drei Holzkisten, zigarrenkastengroß, verschiedene Tücher, eine Schachtel, die nach Fotopapier-Inhalt aussieht. Ein paar Glasscheiben lehnen an der Wand. Seine Performance findet zwischen Wand und Pfeiler statt, anders gesagt: Er performt auf einer Breite von vielleicht 70 Zentimetern, gerade genug Platz, um sich in diesen schmalen Raum hinein zu stellen.
Boris Nieslony, ganz in Schwarz gekleidet, eine Brille auf der Nase, spannt ein Stück schwarzes dicke Schnur auf. Wie eine Wäscheleine, gerade so über seinen Kopf. Er geht drunter hindurch und sagt “Guten Abend!” Und erzählt: “Ich habe vor einer Stunde erfahren, daß ich einen Fehler gemacht habe. Dafür entschuldige ich mich. – Ein Freund fragte mich, kannst du etwas für mich machen? – Jetzt kann ich anfangen.”
Er macht zwei schwarze Klammern ungefähr in der Mitte der Schnur fest. Nimmt ein Papier vom Tisch (den man nicht einsehen kann). Es ist kein normales Papier, sondern Fotopapier. Man sieht erst nur die weiße Rückseite. Er schaut es sekundenlang an. Ganz dicht hält er es ans Gesicht. Dreht es um. Es ist ein Kopf. Der Kopf eines Mannes. Das Bild wird an den Klammern befestigt. Boris Nieslony steht hinter de Foto, so wird das Bild des Mannes zum Kopf von Boris Nieslony. Der Mann auf dem Foto sieht ganz normal aus. Es zwar ein Schwarzweißfoto und sieht alt aus, aber normal. Boris Nieslony befühlt sich die (Foto)Nase, ganz langsam “fährt” er sie mit seiner Hand ab. Dann nimmt er sich eine Fliege und bindet sie um.
Es ist sehr still im Raum. So still, daß man das Tropfgeräusch der Tropfen von Ulrich Lepka hören kann.
Dann hält Boris Nieslony sein Jackett zu, richtet noch einmal die Fliege und pikt sich dann in die (Foto)Augen, tut so, als ob er die Augäpfel mit seinen Händen herausziehen wollte, leuchtet mit einem kleinen schwarzem Stablämpchen in die Augen, in die nun vermeintlich leeren Augenhöhlen. Mit den Händen fährt er sich die Nase entlang, führt die Hände an der Knopfleiste seiner Jacke nach unten bis zum Jackenrand. Dort positioniert er seine Hände an den Hosennähten – ballt die Fäuste, öffnet sie, greift nach vorne und führt sie zusammen Finger auf Finger, nimmt sie nach unten auseinander und legt sie auf seine Oberschenkel. Das Bild rupft er dann ab, es fliegt im hohem Bogen auf den Boden.
Er setzt die Fliege ab, nimmt ein neues Bild. Sein Gesichtsausdruck dabei: angewidert. Das neue Bild zeigt wieder den Kopf eines Mannes, dieser hier muß schon tot zum Zeitpunkt der Aufnahme gewesen sein, das kann man gut erkennen. Unterm Kinn kann man ein    Schildchen mit einer Nummer drauf erkennen. Er befühlt sein Gesicht mit den Händen, leuchtet sich in die Augen, legt die Lampe wieder weg und pikt sich mit einem Finger in die Hand. Nimmt die Hände runter und wieder hoch in die Herzgegend, drückt sich mit beiden Händen ans Herz, macht dann mit beiden Daumen das Daumenzeichen erhobener Daumen = alles ist in Ordnung, alles ist gut. Dann fliegt auch dieses zweite Bild wieder in hohem Bogen auf den Boden.
Das neue Bild sieht er sich wieder dicht an den Augen herangeführt sekundenlang an. Er dreht es um, hängt es auf – nein, er hängt es doch nicht auf, sondern schmeißt es gleich wieder weg. Es landet mit dem Bild nach unten auf dem Boden, so kann man nicht erkennen, was auf dem Foto zu sehen ist.
Das vierte Foto hält er beim Anschauen weit weg von seinen Augen. Er hängt es auf. Es ist das Bild eines Toten, dieses mal ist es eindeutig. Der Kopf eines toten Mannes, am Hals klafft eine Wunde. Der Tote schon leicht im Stadium der Verwesung.
Die Hände von Boris Nieslony vollführen eine Geste, die nach Entschuldigung aussieht. Dann streckt er sie bittend aus. Ballt sie zur Faust und zeigt dann einzeln auf die Augen, auf die Nase und bringt dann beide Zeigefinger zusammen und vollführt mit beiden kreisende Bewegungen. Leuchtet mit der Lampe in die Augen. Durchbricht den Lichtkegel mit seiner Hand, so als ob er den Lichtreflex des Toten prüfen wollte. Nimmt dann die Arme nach unten, sie hängen schlapp am Körper herab, die Handflächen nach außen gekehrt. Seine Hände wandern wieder nach oben, die Finger bewegen sich wie Lippen, die reden. Um nach wenigen Augenblicken wie Essen einführend in Richtung Mund hin und her bewegt werden. Die Bewegungen gehen über in ein Stochern. Dann tritt Boris Nieslony ein Stück zurück, man wieder sein Gesicht sehen, mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. Er reißt das Bild ab, wirft es weg und nimmt ein Neues zur Hand.
Er schaut es an, hält es gegen sein Gesicht, drückt mit einem Finger dagegen, leuchtet die Augen mit seiner Lampe ab – man sieht so nur die weiße Rückseite des Bildes. Er pfeift  oder so (macht jedenfalls ein Geräusch), leuchtet sich selbst in die eigenen Augen und läßt mit lauten Luftzug (seufzend, stöhnend oder eben nur laut Luft geholt?) das Foto fallen. Das nächste vom Tisch genommene Bild landet sofort auf dem Boden. Und zwar so schnell, daß man nicht erkennen kann, was drauf  zu sehen ist.
Das nächste Bild zeigt ein halb verwestes Gesicht, Mund und Nase sind schon halb weg. Boris Nieslony holt eine rote Clownsnase hervor, setzt sie auf – man kann das gerade so hinter dem Foto mitverfolgen. Er strafft sich, Hacken zusammen. Nimmt das Bild aber sogleich ab, die rote runde Nase auch.
Das neue Bild schaut sich lange, irgendwie langsam an. Und er bewegt es von seiner Brust bis zum Unterleib. Erst dann hängt er es auf. Eine Frau, ein Frauenkopf. Er taste das (Foto)Gesicht ab, Mund, extra lange, länger als die Münder zuvor, die Lippen nachzeichnend. Nimmt die Hände runter, geht ein Stück rückwärts und holt ein rotes Mäppchen oder Täschchen. Ein schwarzes Stück Stoff holt er hervor. Ein Unterhöschen vielleicht? Zusammengeknäult kann man das nicht erkennen. Er hält sich den Stoff vor die Nase und wirft es weg. Es war ein Unterhöschen.
Jetzt hat er Stück roten Stoff in der Hand. Er öffnet seinen Hosenstall und stopft sich den Stoff dort hinein. Holt es wieder raus, hält es vor die Nase des Frauenbildes, streichelt das Gesicht. Der Slip, es war ein roter Slip, fällt zu Boden. Da liegt auch schon das Täschchen. Und auch das Bild landet dort jetzt. Wieder hat er einen angewiderten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
Dann nimmt er die eine Glasscheibe, schreibt dort etwas mit einem schwarzen Filzstift drauf, stellt sie gleich weg, um die Ecke, an den Pfeiler, man hat keine Chance, zu erkennen, was er da geschrieben hat. Die nächste Scheibe – das gleiche, vielleicht heißt das kurze Wort “Gier”? Wieder eine Scheibe, wieder um die Ecke gestellt.
Boris Nieslony nimmt sich wieder ein Foto. Fummelt sich am Krawattenknopf, als er das Bild lange betrachtet. Die Zuschauer sehen wieder nur die weiße Rückseite, dann läßt er es fallen.
Das nächste Bild zeigt einen Kinderkopf. Der Mund ist offen, die Augen sind geschlossen. Er leuchtet die Augen ab. Nimmt eine Holzklapper und  klappert damit, immer stärker und damit immer lauter. Solange, bis der Klapperstengel aus der Klapper herausspringt, zerbrochen läßt er die Klapperteile auf den Boden fallen. Auch das Bild fällt.
Eine neue Glasscheibe, wieder schreibt er etwas drauf, ohne daß man die Chance hat, zu lesen, was er da schreibt. Er stellt die Glasscheibe zu den anderen und nimmt ein nächstes Foto. Hält es dicht vor die Augen, hat plötzlich auch eine Glasscheibe in der Hand, schmeißt Foto und Scheibe auf den Boden. Die Scheibe geht kaputt, ein paar kleine Splitter fliegen herum. Auf dem Foto kann man den Kopf eines kleinen Jungen erkennen.
Boris Nieslony nimmt die Fotoschachtel, nimmt ein, zwei, drei und ein viertes Foto heraus, blickt stets angewidert und schmeißt alle nacheinander auf den Boden. Alle zeigen halbverweste Menschenköpfe.
Eine neue Glasscheibe, auf der er etwas schreibt, die er wegstellt. Noch eine Scheibe, und eine weitere. Dann wieder ein Foto. Er schaut es an, dann sieht man: Es sind zwei Fotografien, von der er eine wieder auf den Tisch zurücklegt. Das andere hängt er auf. Ein schon skelettierter  Kopf eines Menschen ist zu sehen.
Boris Nieslony nimmt die letzten zwei Glasscheiben, schreibt, stellt weg und nimmt ein schwarzes Tuch zur Hand, hält es vor das Foto und breitet das Tuch so aus, daß es das Bild ganz verdeckt. Er hängt das Tuch über die Leine. Nimmt dann die erste Scheibe und – man kann es wegen dem verhängten Foto nicht genau sehen, aber gut hören – zerschlägt sie auf seinem Kopf, seiner Stirn. Die Scheibe geht kaputt, fällt auf den Boden, es ist ein ziemlicher Krach. Die zweite, dritte und vierte Scheibe, dann verändert sich das Geräusch des Aufschlagens der Scheibe, er muß die letzten Scheiben alle auf einmal an seine Stirn geschlagen haben. Dann geht er ab in Richtung Toilette.
 
Pause.

Die Pause nutzen Gäste, sich die auf dem Boden liegenden Fotos genauer anzusehen. Hinter dem Pfeiler bleibt ein Haufen Scherben zurück. An einigen Scherben kann man ein bißchen Blut sehen, an einer Stelle liegt auf dem Boden ein dicker Tropfen Blut.
Als Boris Nieslony wenig später vom WC kommt, hat er eine Binde um die Stirn gebunden. Er raucht erst mal eine Zigarette.
 
Sonntag, 25. Oktober 1998
 
18.12 Uhr: Vor der Tür stehen einige Plastesäcke mit Laub.
Die Scherben, die Boris Nieslony mit seiner Performance hinterließ, sind auf zwei Haufen zusammengefegt. Auch die zertanzten Steine Maren Strack sind noch da. Boris Nieslony hat jetzt anstelle der Binde ein Pflaster an der linken Stirnseite. “Gar nicht schlimm”, sagt er.
Im ganzen Raum verteilt kann man zehn etwa fußballgroße dunkelbraune Tonkugeln sehen.
Und Ulrich Lepka sitzt auch wieder (schon wieder? Oder: immer noch?) an seinem Tisch. Nur jetzt taucht er mal eine und hat schon fast das ganze Blatt mit Strichen überzogen.
 
DREIZEHN
 
19.04 Uhr fangen Ingolf Keiner und Stefan Berchtold (beide Berlin) fangen mit ihrer Performance einfach an. Sie gehen auf zwei Kugeln zu, knien sich davor nieder und legen ihre Stirn auf die Kugeln und beginnen, sie mit ihrer Stirn bearbeitend, hin und her zu rollen. Dabei stützen sie ihre Oberkörper mit den Händen ab. Schnell merkt man, daß beide verschiedene Ziele verfolgen.  Ingolf Keiner bearbeitet die Kugel so, daß die eine Seite des inzwischen zum Rechteck mutierten Tonklumpens immer schmaler wird. Er formt einen Kegel. Stefan Berchtold  tut das gleiche, aber viel langsamer. Beide hinterlassen braune Spuren auf dem hellgrauen Fußbodenbelag.
Beide bewegen sich langsam vor und zurück, wie im Kreis drehend. Manchmal aber geben sie ihrem Tonstück einen kräftigen Stirn-Schwups, so daß er ein ganzes Stück weiter rollt. Und manchmal verlangsamen sie ihr normales Rolltempo, machen dann ganz langsam. Ab und zu so langsam, daß es wie Slow Motion aussieht, oder wie Stillstand.
Nach vielleicht fünf Minuten schlägt Keiner mit seiner Stirn auf die flache Seite seines Kegels auf, mehrmals, drückt seine Stirn auf das Material und bewegt die Stirn sacht – so, als ob er eine Mulde formen wollte. Will er aber wohl doch nicht, mit seiner Stirn “setzt” er seine Kegel auf, indem er das dickere Ende von hinten hochstemmt. Dabei knickt das dünnere Ende einfach um, so kann der Kegel prima stehen.
Berchtold machte es kurz vorher auch schon so, nur bei ihm knickte das dünnere Ende nicht ein. Er läßt seine Stirn oben auf dem Kegel liegen, rutscht dann langsam mit seinem Kopf in Richtung Boden.
Keiner steht schon – beide zeitgleich zu beobachten und zu beschreiben ist so gut wie unmöglich – und geht zur nächsten Kugel.
Wenige Sekunden später wechselt auch Berchtold zur nächsten Kugel, eine, die an einer Wand liegt, rollt sie mit Stirn hin und her, von der Wand fort in den Raum hinein.
Keiner rollt seine Kugel in Richtung Publikum, wieder nur mit der Stirn. Beide arbeiten mit unterschiedlichem Tempo. Bewegen sich aber aufeinander zu und arbeiten jetzt nebeneinander. Beide richten ihre Kugeln, die jetzt wieder Kegel sind, auf. Keiner rollt aber weiter, aber Berchtold schlägt seinen Kopf auf den stehenden Kegel immer wieder auf, drückt seine Stirn auf das Material, geht dabei mit seinem Unterkörper hoch, es sieht aus, als ob er sich auf einen Kopfstand vorbereiten würde.  Auch Keiner hat jetzt seinen Kegel, der eher wie ein Rechteck aussieht, wieder aufgerichtet, haut den Kopf drauf und rollt wieder, vollführt kreisende Bewegungen. Nach einem Moment geht er zur nächsten Kugel.
Berchtold ist noch mit seiner Tonfigur beschäftigt. Er versucht, sie platter zu machen und formt mit seiner Stirn eine große Mulde im zum Quadrat mutierten Tonding.
Keiner rollt also schon seine nächste Kugel hin und her, hin und her, hin und her ...
Wenig später schnappt sich auch Berchtold seine nächste Tonkugel. Einige Zuschauer folgen den Künstlern zu den gerade zu bearbeitenden Kugeln.
Keiner formt jetzt eine zylindrische Figur. Berchtold arbeitet runder und platter, seine Figur wird kreiselförmig. Wieder formt sich durch seinen Kopf eine Delle, eine Mulde in den Ton. Den Kopf in dieser Mulde haltend, umkreist Berchtold seine Figur. Keiner dagegen versucht, seine Tonfigur aufzurichten, sie fällt aber wieder um, das wiederholt sich. Von draußen schauen drei Passaten der Performance zu.
Berchtold hat jetzt eine noch größere Mulde als zuvor geschaffen (geschafft), das Ding ist jetzt platt und breit. Er schaut auf sein Werk und steht auf, nimmt sich die nächste Kugel vor. Wartet einen Moment und beginnt mit der bekannten rollenden Bewegung.
Dieses Mal ist Keiner mit seiner “Kugel” noch nicht fertig. Er rollt sie hin und her. Das eine, das dünnere Ende wird immer dünner, da hat er seine Stirn drauf, da übt er Druck aus. Das Ding ist so länger als die anderen zuvor geworden. Er steht kurz auf, schaut nieder, hockt sich dann davor, legt die Stirn drauf und geht sodann zur nächsten Kugel.
Berchtold bearbeitet seine Kugel für einen Moment direkt vor meinen Füßen. Dann rollt er sie in die Mitte des Raumes. Der Ton ist jetzt kegelförmig. Das spitze Ende wird langsam immer spitzer.
Keiner rollt seine Kugel ganz langsam, langsamer als die anderen. Dann wird er schneller, bis das Ding fast quadratisch aussieht. Stets wechselt er zwischen schnellen und langsamen Bearbeiten des Tons.
Berchtold schlägt hart mit seiner Stirn auf den Ton, es knallt richtig.
Keiners Quadrat wird immer runder. Auch er schlägt die Stirn auf, der Ton verformt sich weiter dadurch. Er geht mit seinem Unterleib in die Höhe, “bohrt” sich in den Ton.
Berchtold versucht seine Figur am dickeren Ende mit er Stirn aufzurichten, das dünnere Ende knickt dabei wieder um. Die Stirn auf dem oberen Ende vollführt er wieder fast einen Kopfstand.
Inzwischen wechselte Keiner zur nächsten Kugel, einen von der Form her nicht näher zu beschreibenden Klumpen zurück lassend. Vor der Kugel kniend, haut er seine Stirn wie hämmernd auf die Kugel.
Berchtold ist an seiner neuen Kugel. Er rollt sie hin und her. Beide Männer arbeiten jetzt wieder gegenüber. Berchtold schlägt seinen Kopf zweimal auf den Ton, rollt ihn ein Stück weiter in den Raum, haut seine Stirn in den Ton, drückt das Material. Keiner rollt seine Kugel hin und her. Berchtold will anscheinend ein Art Trichter in seinen Ton formen. Keiner rollt seine Figur hin und her. Bei Berchtold ähnelt die Tonform jetzt einem Hundenapf. Er drückt die Form nach oben, sie steht praktisch auf der schmalen Seite. Er drückt seinen Kopf drauf, verformt den “Hundenapf”, der eindellt ein, oder ausdellt, je nachdem, wo man steht.
Keiner  richtet seine Form auf, setzt seinen Kopf oben auf und drückt, der Ton verformt sich. Dabei bewegt er sich im Kreis, geht mit dem Po in die Höhe. Das Ding sieht – ? – irgendwie aus. Er steht auf, blickt einen Moment auf seine Arbeit. Und wartet auf das Ende der Arbeit von Berchtold. Der ist fertig, seine Arbeit steht (und sind wirklich wie ein zusammengepreßter Hundenapf aus).
Beide sagen zusammen “Danke”, holen einen Wagen, auf dem sie ihre zehn verformten Formen abstellen können. Ihre Gesichter sind braun eingefärbt. So bleiben sie den ganzen Abend.
 
VIERZEHN (ein Vortrag, nein: eine Lecture, Nr. 3)
 
Táche/Magos (beide aus Zürich) hielten eine Lecture. Liegt zur Zeit nicht vor.
 
FÜNFZEHN
 
Ric Alsopp (aus Devon in Wales) stellte einen Tisch und einen Stuhl in den Raum. Auf dem Tisch plazierte er seine Arbeitsmaterialien. Drei Meter entfernt liegt ein kleiner schwarzer Koffer auf dem Boden.
Auf dem Tisch: Ein Teelicht, drei kleine medizinische Fläschchen ohne Etikett, ein kleines Päckchen und eine Art kleiner Gaskocher mit einem passenden Gestell.
Ric Alsopp packt zuerst das Päckchen aus, knöpft die Schnur auf, wickelt sie ab und legt sie ordentlich zusammen wieder auf den Tisch. Das Papier, normales beigefarbenes Packpapier, faltet er zusammen. Zum Vorschein kommt eine Fotopapierschachtel. Das Packpapier legt er auf den Boden, nimmt den Deckel der Schachtel ab. Darin Blätter, unbeschrieben. Er nimmt sie heraus, auch zwei Stück Seidenpapier. Jetzt erkennt man, die Blätter schützten eine Tafel mit grauer Farbe. Die Schachtelhälften landen auch auf dem Boden.
Die Tafel enthält das Alphabet  in vorgestanzten Buchstaben. Was das für ein Material ist, kann man nicht erkennen. Es sieht wie dicke Pappe aus, ist aber so etwas wie Gips, wie ich später durch Tasten herausfand.
Ric Alsopp hat einige Buchstabenstanzen auf dem Tisch ausgebreitet. Es sind die Lettern R, M, T, H, S, E, N, und zweimal das O.
Er klappt ein Messer auf und beginnt beim M die Konturen der Stanze nachzustechen. Er nimmt eine Pinzette zu Hand, das klappt nicht so recht. Er probiert es mit einer spitzen Schere, was auch nicht von erfolgt gekrönt ist – er will das M aus der Tafel herausbekommen. Also nimmt er die M-Stanze und setzt sie auf die Tafel und drückt sie in die schon vorhandenen M-Konturen. Drückt und drückt stärker, nimmt wieder das Messer zur Hilfe, stanzt noch mal mit der M-Form nach, ruckelt damit etwas und befördert dann das M aus seinem engen “Korsett” heraus.
Jetzt ist der Buchstabe O an der Reihe. Es ist leichter, das O herauszuholen, leider bleibt aber der halbe Buchstabe auf der Strecke, er bricht und wird dann eben zusammengelegt, da, wo schon das M liegt, vorne am Tischrand. Dann muß Ric Alsopp noch die O-Form in der Tafel sauberpulen, dann nimmt er den nächsten Buchstaben in Angriff.
Das S kommt nur halb heraus. Er muß die Pinzette zur Hilfe nehmen. Auch das S zerbricht, wird neben dem O zusammengelegt. Das folgende R bleibt heil. Das T erfordert wieder mehr Mühe. Mit der Stanze drückt er nach, dafür bleibt das T aber auch ganz. Ebenso das K. Und das zweite O bleibt auch heil. Das N ebenfalls, das E sowieso.
Die jetzt nicht mehr benötigten Stanzen legt er auf einen Haufen. Und nimmt jetzt eines der Arzneifläschchen zur Hand. Mit der Pinpette entnimmt er Flüssigkeit und träufelt sie in das leere O der Tafel. Mit einem Streichholz zündet er die klare Flüssigkeit an, das O brennt. Mit dem zweiten O verfährt er ebenso. Dann kommt das T und S an die Reihe. Die Flammen erlöschen jeweils nach vielleicht 20 Sekunden. Nachdem alle Negativbuchstaben in der Stanztafel der Reihe nach brannten, sortiert Ric Alsopp die Buchstaben, die zuvor willkürlich aneinander gereiht waren: OHNE STROM.
Jetzt legt er ein neues Wort und noch eines und noch ein weiteres. Er bildet diese Wörter aus dem ihm zur Verfügung stehenden Lettern:
NORTH SOME
MEN SHOT OR
MOTHER SON
MESK OR NOT
TORN HOMES
THEN ROOMS
THE MORN SO
SHORT OMEN und zum Schluß wieder:
OHNE STROM.
Ric Alsopp setzt sich nach dem Buchstabenspiel. Nimmt den kleinen Kocher, schraubt ihn auf, schüttet eine klare Flüssigkeit hinein, dann noch einen Schluck davon, stellt den Kocher unter das Heizgestell und zündet die Flüssigkeit an. Pustet den Streichholz aus. Und nimmt einen kleinen Topf, eher ein Schälchen aus Metall, stellt es auf das Heizgestell über die ziemlich doll lodernden Flammen. Im Töpfchen befindet sich ein kleiner karamelfarbener Riegel. Es dürfte Wachs sein, denn schnell beginnt der Riegel dahin zu schmelzen.
Er zündet ein Teelicht an, nimmt ein anderes Arzneifläschchen zur Hand und erwärmt es über dem Teelicht. Dabei schaut er ab und zu in den Tiegel, in dem das Wachs vor sich hin schmilzt. Die Flamme wird immer größer. Ab und an schaut er auch in das Fläschchen, ob wohl die Flüssigkeit darin schon flüssig geworden ist.
Das Wachs ist vollständig flüssig geworden. Mit einer kleinen Zange nimmt er das Schälchen vom Feuer, stellt es ab und wartet eine Sekunde und beginnt dann die Negativ-Buchstaben auf der Formtafel mit dem flüssigen und dampfenden Wachs auszugießen. Erst das O, dann das R, das S, das T, dann die Buchstaben O, N, M, H und E. Es zischt jedesmal laut. Das Wachs läuft über die Ränder der Buchstaben hinaus.
Dann erwärmt er erneut das kleine Fläschchen über dem Teelicht. Nimmt dann das dritte Fläschchen zur Hand und tropft eine rote Flüssigkeit auf die eben mit Wachs ausgegossenen Buchstaben. Immer einen oder zwei rote Tropfen, meist in die “Mitte” der Buchstaben. Er legt ein weißes Blatt Papier oben auf drückt es mit den Händen und nimmt sodann einen ganzen kleinen Stapel Papier, legt es auf, drückt es fest. Ric Alsopp ergreift das noch flüssige Wachs, das übrig blieb, gießt es über die Buchstaben, ausgestanzt am Tischrand liegen und die Worte OHNE STROM bilden.
Dann endlich kommt die lange erwärmte kleine Flasche zum Einsatz. Er tröpfelt etwas (was?) in ein kleines bereitgestellten Glasschälchen. Schraubt die Flasche wieder zu und tupft mit einem Finger in die Flüssigkeit, probiert, schmeckt davon, indem er seinen Finger in den Mund steckt und ich  ableckt.
Er steht auf, nimmt die Schachtel vom Boden, packt alles zurück, dabei kommt ganz oben ein Papier zu liegen, auf dem mit Maschine etwas geschrieben steht. Es ist zu klein, um es lesen zu  können. Dieses Blatt nimmt er zur Seite. Und packt dann das Päckchen mit Packpapier und Schnur, es sieht so aus, wie am Anfang seiner Performance. Nach zwei Knoten legt das Päckchen ab, pustet das Teelicht aus, löscht die Flamme des kleinen Kochers, stellt das kleine Schälchen weg, stellt alles zusammen und trägt es in einer Hand weg. Die ersten umstehenden Leute drängen vor zum Tisch, um lesen zu können, was da auf dem Blatt Papier steht.
Als Ric Alsopp aus der Ecke zurückkommt, rückt er das Blatt Papier in die Mitte es vorderen Tischteils. Aha, es sind die vorhin von ihm gelegten Wortkombinationen. Und    Ric Alsopp schreibt auf das Päckchen etwas nieder: “A partially used Alphabet for Boris”.
Einen Moment bleibt er am Tisch einfach stehen und sagt dann “Thank you!”
Beifall. Und eine vorletzte Pause.
 
SECHZEHN
 
Jürgen Wolfstädter (Offenbach) holt sich die durchsichtigen Plastesäcke mit Laub aus dem Vorraum, als er mit seiner Performance beginnt. Er stellt sie zusammen, stellt sie übereinander, schichtet sie auf. Mit einem Klebeband umrundet er diesen kleinen Berg aus Laubsäcken, verfestigt ihn so. Aus einer Ecke, da wo Ulrich Lepka seine Performace abhält, holt Jürgen Wolfstädter einen Blumenstrauß, bunte Chrysanthemen, und legt ihn oben auf den Laubsäckeberg.
Er nimmt ein Papiertaschentuch, legt es zusammen und zur Seite. Faltet ein zweites zusammen, legt es auf sein Auge und klebt es mit vier kurzen Klebestreifen fest. Das andere Papiertaschentuch kommt auf das zweite Auge und wird ebenfalls festgeklebt. Dabei hat er eine schwarze Umhängetasche geschultert.
So tastet er nach dem Blumenstrauß und klettert vorsichtig auf den Laubberg. Richtet sich auf und trampelt etwas, um sich einen sicheren Standpunkt zu erarbeiten. Er hält mit seinem rechten Arm die Blumen in die Höhe, steht einen Augenblick so da, faßt sich kurz an den Mund und beginnt, mit seinem Arm (den mit den Blumen) zu rotieren. Immer schneller. Seine Tasche muß er dabei mit dem linken Arm festhalten. Einmal trifft der Blumenstrauß die Hose, einige Blütenblätter wirbeln danach durch die Luft.
Dann singt-spricht, spricht-singt er, vom starken Atmen beeinträchtigt, mit heftig rotierendem Arm:
“Tief im Odenwald steht ein Bauernhaus so hübsch und fein, drinnen wohnt ein Mägdelein, die gehört nur mir allein – die schöne Odenwälderin.”
Dann summt er die Melodie. Und aus dem Summen wird ein Wiedergeben der Melodie mittels vieler “Da-da-da-da’s.”
Eine Dame im Publikum neben mir sagt; “Na, das ist doch jetzt mal was fürs Herz.” Und ein Mann macht Fotos im Raum, obwohl das doch eigentlich gar nicht erlaubt ist. So was!
Der Arm wird langsamer, und Jürgen Wolfstädter singt noch einmal wunderschön:
“Tief im Odenwald steht ein Bauernhaus so hübsch und fein, drinnen wohnt ein Mägdelein, die gehört nur mir allein – die schöne Odenwälderin.”  Dazu fährt ein junges Fräulein, blond, auf einem Skateboard einmal um ihn und den Laubberg herum.
Jürgen Wolfstädter Atem geht immer schwerer, er singt wieder das Lied. Rutscht, wankt, fällt von seinem Berg, klettert wieder rauf und beginnt wieder mit seinem Armkreisen. Nach etwas einer halben Minute schmeißt er seine Blumen weg, sie fliegen durch die Luft.
Die Skateboard-Fahrerin umrundet ihn wieder, hebt sich eine Blume vom Boden auf und fährt weiter und hält an. Jürgen Wolfstädter krempelt sein Hemdsärmel auf. Es ist der Arm, der zuvor die Blumen in der Hand hielt. Aus einem Sacke holt er ein Klebeband und Laub heraus. Er hält sich das Laub auf den linken Unterarm und klebt es mit dem Klebeband fest. Er nimmt immer mehr Laub und umrundet es mit dem Klebeband. Dabei vermischt er altes Laub mit noch frischen grünen Blättern. Nach kurzer Zeit ist sein Unterarm dick mit Laub “bewachsen”. Das Klebeband schmeißt er weg, nimmt seinen Arm nach oben und steht einfach so da, schwer atmend. Sogleich versucht er, diesen “Laubpanzer” wieder von seinem Unteramt zu kriegen. Es schiebt und drückt. Er schafft es nur mühsam. Aber befreit seinen Arm, hält ihn wieder nach oben und bleibt so einen Moment stehen. Nach wenigen Sekunden reißt er sich beide “Augenklappen” ab. In dem Augenblick kommt das Skateboard-Fräulein wieder angerollt und sagt zum Künstler: “Oh Jürgen! Das war die beste Performance, die ich je gesehen habe! Jürgen Wolfstädter, ich liebe dich!”
Er fragt zurück: “How much?”
Sie: “Higher then the highest Hill!”
Ende, Beifall und Gelächter.
Und zum letzten Mal eine Pause.

SIEBZEHN
 
Die letzte Performance ist auch die mit der größten Vorbereitungszeit. Zwei Schalen mit Wasser werden an das eine Ende des großen Raumes gestellt, auf der anderen Seite werden fünf große Rettiche abgelegt. Aus Knäckebrot wird in etwa einen Meter großen Buchstaben das Wort “KOSOVO” gelegt.
Dann geht die Performance von Halter/Gratwohl (Zürich) und BBB J. Deimling (Berlin) los:
Franz Gratwohl und BBB J. Deimling kommen durch die Tür (die zum Kassenvorraum führt) in den großen Raum herein. Sie gehen zu einem Stuhl, der etwa in der Mitte der großen Fensterfront des Raumes steht. Franz Gratwohl steht, schaut nach draußen. BBB J. Deimling indes schreibt mit Kreide auf dem Boden vor dem Stuhl das Wort “PROLOG!”, stellt sich neben Franz, zwischen ihnen der Stuhl, und schaut auch nach draußen. Ihre Arme haben sie auf dem Rücken verschränkt, so stehen sie rund zwei Minuten.
Franz Gratwohl geht, BBB J. Deimling folgt ihm. Sie gehen zur linken Seite rüber, da stehen die beiden Schüsseln mit Wasser. Aus ihren Sakkos holen die beiden einen in Folie eingewickelten Fisch (was für ein Fisch? Keine Ahnung!), packen ihn aus, lassen ihn aus der Folie direkt in die Schüssel gleiten. Die Folie legen sie neben die Schüssel. Der Fisch liegt auf dem Grund der Schüssel.
Franz Gratwohl geht zu einem Glas mit Wasser. BBB J. Deimling geht zu einer Ledertasche, die am Pfeiler steht, holt eine Dose heraus und stellt sie auf dem Steinhaufen ab, der von der Performance von Maren Strack übrig blieb. Es ist eine Dose “Serbischer Eintopf”. Er geht zurück zur Tasche, entnimmt ihr eine grüne Schlangengurke, Bestecke, ein schwarzes zusammengebundenes Tuch, in dem irgend etwas drin ist. Er schreitet über die Knäckebrot-Buchstaben, die KOSOVO ergeben dorthin, wo die Rettiche liegen. Dort nimmt Gabeln und steckt einige von ihnen in die Gurke, das Gemüse steht.
Franz Gratwohl – er ist durch das Beobachten von BBB J. Deimling Aktivitäten für einen Moment aus dem Blickwinkel entschwunden – Franz Gratwohl also zündet einen Streichholz an, plötzlich fällt ein Geldstück runter, er trinkt einen Schluck Wasser aus dem Glas. Dann geht er zu BBB J. Deimling hinüber. Beide stecken jetzt Gabeln in die Rettiche, jeweils vier Gabeln pro Gemüse. Sie werden nebeneinander aufgestellt. Franz Gratwohl hat zwei Rettiche bearbeitet, geht dann zur Tasche am Pfeiler - BBB J. Deimling hat drei Rettiche übernommen. Franz Gratwohl hat eine lange Verlängerungsschnur aus der Tasche geholt. Damit geht zu einer Steckdose, steckt das  Verlängerungskabel in die Steckdose und geht zur einer weiter entfernten, quasi diagonal liegenden Steckdose und steckt auch da einen Stecker hinein. So ist das Kabel gespannt, hängt etwa 50 Zentimeter in der Luft. Ist etwa acht Meter lang.
Vor den aufgestellten Rettichen (und der Gurke) schreibt BBB J. Deimling mit Kreide wortspielerisch: “RETT(D)ARMEE”. Einige umstehende Besucher lachen.
Beide treffen sich an den Schalen mit den Fischen wieder. Sie nehmen beide ihre Fisch aus dem Wasser und legen diesen ihn einen Schwimmring, den sie aufblasen, erst die eine, dann die andere Seite. Da lachen viele im Publikum. Schwimmring mit Fisch legen sie zurück ins Wasser. So kommt der Fisch zum Schwimmen.
BBB J. Deimling geht danach zu einem großen Blumentopf am anderen Ende des Raumes.
Franz Gratwohl holt in der Zeit eine Tüte mit Buchstabennudeln aus der Tasche und verstreut deren Inhalt über das Knäckenbrot-Wort KOSOVO. Die leere Tüte schmeißt er weg.
BBB J. Deimling hat sich indessen die schwarzen Schuhe ausgezogen, dann die Strümpfe. Er stopft sich beide Nasenlöcher mit irgend etwas zu, kniet nieder und hält seinen Kopf in den Blumentopf. Franz Gratwohl schüttet mit seinen Händen die Erde in den Topf, die in einem kleinen Haufen vor dem Topf liegt. Dann nimmt er eine kleine grüne Gießkanne und begießt den frisch eingepflanzten Kopf von BBB J. Deimling.
Der kommt nach vielleicht 20/30 Sekunden wieder aus der Erde heraus. An Kopfhaut und Haaren Spuren von dunkler Erde und Wasser. Er zieht seine Strümpfe und die Schuhe wieder an. In dieser Zeit geht Franz Gratwohl zu dem kleinen schwarzen Stoffsäcken, knüpft es auf, wartet einen Augenblick, bis auch BBB J. Deimling da ist. Beide knien nieder, nehmen etwas in die Hände und schmeißen es durch die Luft. Es sind goldfarbene Taler, wahrscheinlich Schokoladentaler. Man kann Euro lesen. Jeder hat zwei Wurf, dann sind die Euro-Schokotaler alle.
BBB J. Deimling geht ein paar Meter nach vorn und holt eine Zeitungsseite hervor, stellt sich so hin, als ob er lesen würde. Es ist die Neue Zürcher Zeitung. Franz Gratwohl schreibt mit Kreide das Wort “EPILOG” und dazu das Datum “25.10.98” vor BBB J. Deimlings Füßen. Er nimmt einen Streichholz und zündet die Zeitung an. Die brennt sekundenschnell weg, BBB J. Deimling läßt erst los, als die Flammen seine Hände fast berühren. Franz Gratwohl ist derweil schon in Richtung Ausgangstür gegangen, wartet dort einen Augenblick, bis auch BBB J. Deimling kommt. Beide gehen gemeinsam hinaus.
Beifall.
Einige Leute sammeln Schokotaler auf und verspeisen sie.

Ulrich Lepka sitzt derweil noch immer an seinem Platz. Bis Montagmorgen gegen acht Uhr will er seine Performance durchführen. Auch dafür Beifall. Viel sogar.
 
ENDE DES FESTIVALS “OHNE STROM”

P.S.: Zugegeben, diese Textfassung entstand MIT STROM. Von Andreas Hergeth, Berlin.   
An dieser Stelle möchten wir allen Teilnehmern und Helfern Danken, die zur Realisierung des Festivals “OHNE STROM” beigetragen haben.
"Ohne Strom" Performances & Vorträge23.-25. Oktober 1998, Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin
DOKUMENTATION Isabel Idee & Konzept: BBB Johannes DeimlingOrganisation & Realisation: Johan Lorbeer & BBB Johannes Deimling


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