JOHAN LORBEER
Shaolinübung für Performancekünstler

Performancekonferenz Köln 1996
Vortrag vom 15. Juni 1996

Atempause : - ' -

Sehr verehrte Damen und Herren  - ' -  ich bin von den Organisatoren dieser zweiten Performancekonferenz hier in Köln aufgefordert worden heute einen Vortrag zum Thema performance  zu halten  - ' -   ursprünglich  hatte ich die Absicht über die finanzielle Situation des Performancekünstlers in der BRD zu sprechen  aber die inhaltlichen Vorbereitungen  zu diesem Thema waren derart deprimierend dass ich schliesslich von diesem Vorhaben Abstand nehmen musste - ' -  stattdessen  ein etwas neutraleres Thema  - ' -  die Gedanken dazu habe ich auf knapp fünf Schreibmaschinenseiten zusammengeschrieben  - ' -   da mir die sprachliche Eloquenz und die Kaltschnäuzigkeit zu einer freien Rede fehlen habe ich diese fünf Seiten auswendig gelernt  - ' -    mit diesem Auswendiggelernten biete ich ihnen und mir die Illusion der freien Rede  - ' -   die Illusion der freien Rede dauert achtzehn Minuten  und beginnt mit dem Titelsatz  - ' -  Shaolinübung  für  Performancekünstler  - ' -  zwischen dem Begriff performance  also die Kunst der öffentlichen Selbstdarstellung  und  dem Begriff Shaolin  also die die Kunst der Selbstverteidigung   gibt es erstmal einen grundsätzlichen Unterschied  denn das Shaolin hat einen traditionell festgelegten Kanon an Bewegungsabläufen denen sich jeder Shaolinübende gleichermassen unterziehen muss   während eine performance die  individuell gestaltete  oder spontane Abfolge von Situationen ist  - ' -  von daher gibt also es erstmal einen grundsätzlichen Unterschied  allerdings gibt es auch einige Berührungspunkte auf die ich unteranderem eingehen werde - ' -   in der Theorie des Shaolin  gibt es den Ausdruck - ' -  HU SHIAN   - ' -  wörtlich übersetzt  - ' -  der Schatten des Tigers  - ' -  darunter versteht der Shaolinübende eine Art imaginäres Bewegungsmuster   das jeder tatsächlichen Bewegung vorausgeschickt  wird   - ' -  also  - ' -  sich ein Bild machen von einem konkreten Bewegungsablauf und diesen dann konkret in die Tat umsetzen  - ' -  das mache ich  als Performancekünstler  ja auch  - ' -  es gibt  in meinem Alltag zwischen Geschirrspülen und Babywindeln kurze traumartige Zustände die  ich ab und zu praktisch in die Tat umsetzen möchte  - ' -  wenn ein Künstler  sich selbst also seinen eigenen Körper zum Bestandteil seiner künstlerischen Formulierungen macht dann geht er ein spezielles Risiko ein  denn da  performance ein zeitabhängiges und in der Öffentlichkeit geschaffenes Kunstwerk ist   bedeutet es  daß jeder Fehler und jede Korrektur die ein Performancekünstler macht   gleichermassen zeitgleich vom Betrachter  auch registiert wird  - ' -   es gibt Performancekünstler die behaupten dass sie während ihrer öffentlichen Darbietung in der Lage sind  aus sich herauszutretten - ' -  neben sich zu stehen   - ' -   sich zu betrachten  während sie etwas tun  also eine Art öffentliche Doppelexistenz führen  und das gerade dieser Zustand ihrer öffentlichen Spiegelexistenz  ihr ganz persönlicher Emotionskick bei ihren performances ist   - ' - der Begriff  Shaolin  bezieht sich auf das  chinesischen  Kloster  SHAOLIN ZSE  was soviel heisst  wie - ' -  das Kloster im jungen Birkenwald  - ' -  dort lebte vor   zweitausendfünfhundert Jahren ein Mönch namens  TA  MOH   und dieser Mönch lehrte seinen  Kollegen allgemeine gymnastische Übungen  zum Ausgleich für die  oft langanhaltenden Meditationen  - ' -  da nun dieses Kloster zu jener Zeit des öfteren zum Opfer lokaler kriegerischer Auseinandersetzungen wurde  und die Mönche auf Grund eines Gelübtes keine Waffen tragen durften trotzdem ihr Kloster verteidigen  wollten entwickelten sie aus diesen  allgemeinen gymnastischen Übungen die erste Form der körperlichen Selbstverteidigung  die unter dem Namen Shaolin bekannt wurde  - ' - all die Formen von Selbstverteidigung die wir heute kennen  angefangen von Aikido bis hin zu  Hardcore Kong Fu   haben ihren Ursprung im Shaolin   - ' -  der Mönch  TA MOH hat in seinem letzten Lebensjahrzehnt zwei  Bücher über die Kunst der Selbstverteidigung geschrieben   das erste Buch hat den Titel   - ' -  ABHANDLUNG ÜBER DIE BEWEGUNG DER KLEBENDEN HÄNDE   - ' -   das zweite Buch hat den Titel  - ' - ABHANDLUNG ÜBER DIE WÄSCHE DES KNOCHENMARKS     - ' -    sehr verehrte  Damen und Herren    es gibt auch Performancekünstler die behaupten   dass sie nicht nur in der Lage sind  während ihrer öffentlichen Darbietung aus sich herauszutretten und sich selbst zu betrachten   sondern darüber hinaus auch in der Lage sind  in den Anderen  - ' -  in den Betrachter  - ' -  einzutauchen  - ' -  sich mit ihm zu identifizieren - ' -  in die Gefühlswelt des Betrachters einzudringen  um dann schliesslich wieder aus ihm auszusteigen  und das gleiche Spiel mit dem  nächsten Betrachter zu spielen so wie der Missionar   - ' -  der ist zwar bescheiden   aber wenn es um die Taufe seiner frischen Heiden geht sehnt er sich danach mit ihnen zu verschmelzen  um sich  dadurch selbst jedes Mal aufs Neue mittaufen zu können   - ' - das ist sein  autistischer Gefühlskick  - ' -   ich habe nicht die Absicht  während meiner performances aus mir herauszutretten und neben mir zu stehen   ich habe nicht die Absicht  in die Gefühlswelt des Betrachters einzudringen    ich bin der Meinung das  es zwischen dem Kunstwerk  und dem Betrachter eine möglichst grosse Distanz  geben sollte  den Distanz ist die Voraussetzung  dafür das sich beide  - ' -  Betrachter und Kunstwerk  - ' -  mit Respekt   und ohne Vorurteile gegenseitig annähern können     wenn ich mir eine öffentliche Darbietung ansehe und der öffentlich tätige Künstler gibt mir auf irgendeine Art zu verstehen dass er in  mich  oder ich in ihn  eintauchen und verschmelzen sollte   das wir doch ALLE  EINS  sind   eine grosse Familie  in der wir uns gegenseitig unsere Gefühle   Phantasien und Probleme mitteilen können   nach dem Motto  EVERYBODY CLAP YOUR HANDS  - ' - dann werde ich versuchen mich dieser Darbietung zu entziehen  - ' -   die einfachste Variante sich in die Gefühlwelt des Betachter einzuhacken  ist die öffentliche Präsentation des eigenen körperlichen Schmerzes  - ' -  ich habe vor zwei Jahren in Hamburg eine performance gesehen   da hat sich der darbietende Künstler in der kunstinteressierten Öffentlichkeit mit einem Rasiermesser die Stirn aufgeschnitten  - ' -  und die Backen  - ' -   er hat geblutet wie verrückt  - ' -   ich war darauf nicht vorbereitet  ich dachte mir ist der Mann so einsam  das er  in der Öffentlichkeit  sein Gesicht mit einem Rasiermesser massakrieren muss um meine künstlerische Aufmerksamkeit zu erzwingen ist es notwendig  um einen prägnanten künstlerischen Ausdruck zu formulieren  und das wollen wir Künstler ja   ist ja klar   ist es da notwendig  der Öffentlichkeit sein eigenes warmes Blut zu präsentieren  um  damit auf die destruktive Stimmung unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen  - ' -  im Shaolin gibt es eine Besonderheit und zwar ist der Anfangspunkt eines Bewegungsablaufs immer deckungsgleich mit dem dem Endpunkt eines Bewegungsablaufs - ' - das heisst die erste Bewegung und die letzte Bewegung haben die gleiche visuelle Information - ' - das macht ja ein Taschendieb auch - ' - die Hand muss nach ausgeführter Tat wieder  in die Jackettasche zurück  - ' -  als wäre nichts geschehen - ' - als hätte es keine Bewegung keine Handlung gegeben  - ' -  verehrte Damen und Herren erlauben sie mir einen kurzen Ausflug in die Schulphysik  - ' -  da habe ich gelernt das wenn ein Elektron auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wird  und dann auf ein Neutron mit entgegengesetzer Geschwindigkeit  prallt  es zu einer extremen Explosion kommt bei der das Elektron für einen Bruchteil einer Zeiteinheit  in seine Einzelteile zerfällt um gleich darauf wieder in seine ursprünglichen Form  nämlich als  Elektron zurückzufinden  - ' -  um nun denoch diesen für das menschliche Auge unsichtbaren Vorgang dingfest zu machen haben die Physiker elektronische Geräte entwickelt die nur dazu dienen diesen kurzfristigen Explosionsvorgang  zeitlupenartig festzuhalten um ihn überhaupt sichtbar und analysieren zu können  - ' -  das heisst also dass der tatsächliche physikalische Vorgang und die Beobachtung dieses Vorgangs zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten stattfindet  - ' -  auf Grund dieser Problematik haben die Wissenschaftler einen Begriff eingeführt nämlich den Begriff RAUMZEIT  - ' -  Raumzeit  das klingt erstmal sehr lyrisch und assoziationsgeladen aber je öfter ich  diesen Begriff höre um so weniger  kann ich mir dabei etwas vorstellen  - ' -  denn was heisst das Raumzeit  - ' -  heisst es das in diesem Raum  hier in dem ich  jetzt diesen Vortrag halte eine Zeit abläuft die anders ist als die Zeit hier draussen auf der Strasse  - ' -  oder heisst es dass ich hier in diesem Raum eine performance machen könnte und gleichzeitig hier in dem Nebenraum eine performance machen könnte wenn ich mich nur in dem richtigen Raum ZeitKontinuum bewege  - ' -  ich möchte nun zum Schluss noch auf eine stereotype Situation hinweisen die mir als Performancekünstler öfters wiederfährt  - ' -  die Situation ist folgende  - ' - ich  bin in der Auguststrasse in Berlin in einer Bar da kommt ein Mann auf mich zu klopft mir kurz auf die Schulter und sagt  - ' -  Sie sind doch der Lorbeer der Performancekünstler der mit den Tellern immer rumsitzt ja ich hab Sie schon mal gesehen das ist ja ganz witzig was sie da  so machen aber wissen Sie Herr Lorbeer ich hatte neulich eine performance das wär was für Sie gewesen ich  war nämlich eingeladen bei meinen Eltern an Sylvester  zum Essen und da hab ich doch glatt zu später Stunde den Christbaum mit den brennenden Christbaumkerzen umgeschmissen Gott sei Dank hatte meine Mutter einen Topf mit Wasser in der Küche und hat den Christbaum gelöscht es ist auch nichts weiter passiert ausser das der Teppich nass war und am nächsten Tag sollte meine Tante Gerdi und Tante Gretel zum Kaffeetrinken kommen  und  das ging natürlich nicht mit dem nassen Teppich  und draussen hats geregnet also was hat mein Vater gemacht er ist aufs Klo hat den Föhn geholt und hat in den Morgenstunden des ersten Januar neunzehnhundertsechsundneunzig unseren Wohnzimmerteppich trockengeföhnt  - ' -  das war ne performance  Herr Lorbeer das wär was für Sie gewesen das hätte man filmen müssen  - ' -  wenn ich sowas höre dann fühle ich mich immer über den Tisch gezogen das zerknirscht mich  - ' -  denn wie soll ich das verstehen wie soll ich mich als professionell tätiger Performancekünstler dazu verhalten wenn alles was etwas ausserhalb des alltäglichen passiert sofort als PERFORMANCE  deklariert wird  - ' - soll ich mit dem Kopf nicken und sagen ja ja Sie haben Recht die besten Geschichten schreibt das Leben und wenn es tatsächlich so sein sollte das Kunst und Leben identisch sind dann bin ich kein Künstler sondern dann bin ich Politiker  - ' -  damit  sehr verehrte Damen und Herren komme ich zum letzten Satz des Auswendiggelernten - ' -  ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit  - ' -  guten Abend


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